Wir haben meinen Nichtbruder besucht, jenen also, der es nicht bis in den Bauch meiner Mutter schaffte und sich deshalb im Bauch einer anderen austragen lassen musste.
Er ist drei Jahre älter als ich. Ein Vorsteher, Anführer vielleicht.
Die Wohnung findet sich hinter zahllosen Türen; Tür hinter Tür, bis man so viele hinter sich geschlossen hat, dass man ganz erschöpft Platz nimmt, froh darüber, ein Fenster zu sehen.
Kaffee und Kuchen standen bereits auf dem Tisch. Vom Auftischen versteht er etwas. So wie ich. Beide sind wir Auftischer. Auch Aufschneider. Wir redeten, tauschten Geschichten aus. Ins Album mit ihnen. Ins Erinnerungsalbum des Kopfes. Dort können sie ausbleichen, bis kaum noch etwas auf ihnen zu erkennen sein wird. Über Bücher sprachen wir. Über Lebenszeit. Dann wieder Bücher, speziell über Proust, über das Aufgeben, denn wer seine Lebenszeit großzügig verschwenden will, muss viel aufgeben, möchte er viel beginnen. So könnte man meinen Nichtbruder und mich als Anfänger bezeichnen. Daueranfänger, die sich von Anbeginn zu Anbeginn stürzen, bis der letzte Anbeginn ein Ende sein wird.
Zwei Stunden waren es, die rasch von der Uhr in der Küche verbraucht worden waren. Sie tickte sie weg, einfach so.
Wir gingen, ich trennte mich Backe an Backe von meinem Nichtbruder, mit keinem Versprechen, dieses Treffen bald zu wiederholen. Lieber lassen wir uns überraschen. Von uns und unseren Anfängen, die uns hin und wieder auch uns in die Hände treiben.