Von der Ethnologie zur Erkenntnistheorie
Gerd R. Rueger 15.Januar 2008
Wie alles begann: Der Weiße Mann brachte den Wilden erst den rechten Glauben, dann die rechte Zivilisation. So saugte die Moderne einen Teil ihrer Fähigkeit zur Selbstreflexion aus interkulturellen Studien, die zunächst im kolonialen Kontext einen deutlichen Machtaspekt trugen. (Abb. Berliner Museum für Vor- und Frühgeschichte. Festschrift zum 175jährigen Bestehen, Acta Praehistorica et Archaeologica. Band 36/37, 2004/05). Bruno Hessling Verlag, 2005, S. 105)
Aber das Andere ließ sich nicht einfach ableugnen und zerstören, denn ein wissenschaftlicher Zwang zur Dokumentation, Organisation und Reflexion setzte sich langsam durch.
(Frankfurter Museum fuer Weltkulturen Stereofotographien des Voelkerkundlers Leo Frobenius Frauengefängnis)
In Abwandlung von Nietzsches berühmten Aphorismus über den Abgrund könnte man sagen:
Wenn du lange genug in den Abgrund des Anderen blickst, blickt das Andere irgendwann zurück –oder dann blickst du mit den Augen des Anderen auf dich zurück.
Der Interkulturalität parallel ist die Interdisziplinarität zu sehen, wenn wir wissenschaftliche Schulen durch die Augen der Anthropologin sehen.
Die Bielefelder Wissenschafts-Anthropologin Karin Knorr-Cetina legte mit Ihrer Studie „Die Fabrikation von Erkenntnis: Zur Anthropologie der Naturwissenschaft“ (1991) die im Original 1981 mit „An Essay on the Constructivist and Contextual Nature of Science“ untertitelt wurde, einen solchen Ansatz vor, wobei „Science“ im Englischen mit Naturwissenschaften identifiziert wird, von der die Geisteswissenschaften als Künste („Arts“) hinsichtlich ihres Erkenntniswerts deutlich unterschieden werden. In dieser berühmten Studie zur Ethnologie der Laborforschung beginnt sie ihr 7.Kapitel „Wissenschaft als interpretative Rationalität oder: Die Übereinstimmung zwischen den Natur- und den Sozialwissenschaften“ mit einem Zitat von Friedrich Nietzsche: „Es dämmert jetzt vielleicht in fünf, sechs Köpfen, daß Physik auch nur eine Welt-Auslegung und Zurechtlegung… und nicht eine Welt-Erklärung ist.“ (S.245) Von Diltheys verstehender Soziologie führt sie ihre Argumentation über Gadamers These der „Universalität von Hermeneutik“ zu Wittgenstein, Feyerabend, Toulmin und Thomas S. Kuhn. Kuhn kam 1962 zu dem Schluss, dass Naturwissenschaft normalerweise in Traditionen verankert ist, die sich intern auf ein konsistentes Sprachspiel (wie Wittgenstein gesagt hätte) einigen können. Verschiedene Traditionen seien aber „inkommensurabel“, eigentlich nicht in einander übersetzbar, denn die Rahmung von Tatsachen durch Theorie und Methodik einer Tradition sei eine Interpretation, die dem hermeneutischen Zirkel in den Humanwissenschaften entspräche: Es geht um die „Theoriegeladenheit“ der Beobachtung. „Realität“ wird konstruiert, nicht entdeckt –der konstruktivistische Blickwinkel.
Typhus-Forscher Ludwik Fleck
Eine medizinisch-wissenschaftliche Tatsache eignet sich besonders für unsere Betrachtungen, weil sie sich historisch wie inhaltlich sehr reich gestaltet und erkenntnistheoretisch noch nicht abgenützt ist.“
Ludwik Fleck (1934), Entstehung und Entwicklung einer wissenschaftlichen Tatsache: Einführung in die Lehre vom Denkstil und Denkkollektiv
Erstaunlich ist, dass Knorr-Cetina den Wissenschaftler übersah, der bereits eine Generation zuvor diese Perspektive entwickelt hatte: Den polnisch-deutschen Juden Ludwik Fleck. Eine genaue Lektüre von Kuhn hätte sie auf diesen Klassiker aufmerksam machen können, denn Kuhn nennt Fleck ausdrücklich. Die akademische Laufbahn von Fleck wurde durch den deutschen Faschismus zerstört, er musste seine medizinische Forschung in Auschwitz und Buchenwald in den Dienst der SS stellen. Als führender Experte für Typhus-Impfstoffe wurde er in den KZ-Laboren von Auschwitz und Buchenwald eingesetzt, wo er trotz argwöhnischer Bewachung durch die SS unter Lebensgefahr den von ihm hergestellt wertvollen Impfstoff an die Lagerinsassen weiterleitete.
Die SS, der die Typhus unter ihren inhaftierten Opfern willkommene Hilfe beim Massenmord war, erhielt stattdessen wirkungslose Präparate (Schäfer/Schnelle: Einleitung zu Fleck 1981, S.XIIf.). Die Nazi-Schergen waren offenbar zu dumm, den von ihnen ausgebeuteten Wissenschaftlern einzureden, sie würden für eine gute Sache, für die Menschheit etc. arbeiten. Heutige Machteliten haben daraus gelernt, wenn sie sich Intelligenz in Labors halten und die scheinheilige Proklamation einer hohen Ethik gehört heute ebenso selbstverständlich dazu, wie die Ausbeutung der gewonnenen Erkenntnis zum Nutzen nur der besagten Machteliten.
Fleck bearbeitet die wissenschaftshistorische Seite der Problematik anhand der Erforschung der Syphilis und spricht von „Denkkollektiven“ und „Denkstilen“, in denen sich Arten der Konstruktion von „Realität“ herausbilden. Die soziale Bedingtheit jedes Erkennens war für ihn eine Selbstverständlichkeit, wobei der Träger der Entwicklung eines Denkgebiets und seines Wissensbestandes das Denkkollektiv war: Die Gemeinschaft von Menschen, die im Gedankenaustausch oder in gedanklicher Wechselwirkung stehen (Fleck 1981, S.54). Heute glauben viele, über die Netze sei eine globale Gemeinschaft des Austausches von Gedanken entstanden, einige träumen von einer „kollektiven Intelligenz“ (Pierre Levy).
Die Wikipedia-Halbwissensgesellschaft
Leider übersehen sie dabei die Übersetzungsprobleme zwischen Denkkollektiven und so ist das Internet wohl in erster Linie der Ort des Austausches von nur halb- oder falschverstandenen Informationen, weniger von Erkenntnissen und Wissen. Diese würden ein mühsames, zeitaufwändiges Einarbeiten in die Sprachspiele und Denkstile erfordern, an dem es heute in der schönen neuen Welt des oberflächlichen Wikipedia-Wissens mangelt.
Gesucht ist heute oft leicht konsumierbares Wissen, also eher Halbwissen, das den größten Teil seiner Intelligenz auf die Präsentation verwendet. Dieser Einwand soll nicht als generelle pessimistische Kulturkritik missverstanden werden. Man muss Halbwissen nicht als schlimmer denn Nicht-Wissen verdammen: Ein Mut zur Lücke, der sich dessen bewusst bleibt, ist heute angesichts der Wissenlawine ohnehin unumgänglich. Nur wer seine Erkenntnis absolut setzt, begeht einen Fehler. Aber dies gilt, wie uns die Wissenschaftskritik erklärte, nicht nur für den Wissen zusammen googelnden Websurfer, sondern auch für die bestinformierten Fachwissenschaftler. Auch ihr Wissen ist nur vorläufiger Stand der Erkenntnis, zudem aus Sicht anderer Disziplinen, anderer Schulen mit anderen Denkstilen oft ganz anders zu interpretieren. Dazu kommt immer mehr der Faktor Geldmacht, umso mehr, umso weiter die Kommerzialisierung der Wissenschaften voran schreitet. Immer mehr Wissenschaftler nehmen Geld von Intressengruppen, die sich Expertise einkaufen, Ergebnisse, Patente –im Endeffekt eine Weltsicht erschaffen lassen, in der sie natürlich im besten Licht dastehen.
Auch dies gilt es, in eine Bewertung von Erkenntnis einzubeziehen, aber gerade Naturwissenschaftler haben hier meist einen blinden Fleck. Bei Sozialwissenschaftlern gibt es diesen auch und schlimmer noch, einen ungesunden Zynismus, der eine gezielte Produktion von „wissenschaftlicher“ Desinformation als lukrative Tätigkeit pflegt. Hier hilft das Netz durch Transparenz: Google findet nicht die Wahrheit über ein Wissensgebiet, kann aber die Hintergründe des Wissen produzierenden Denkkollektivs aufdecken. Leichter als in eine Theorie- oder Methodenwelt einzudringen ist es, Firmenverbindungen und Finanziers zu ermitteln. Und dies sagt manchmal mehr über eine vermeintlich sichere Erkenntnis aus, als die Fachartikel der Forscher. Wir brauchen Transparenz auch in Wissenschaft und Forschung, wir brauchen Whistleblower, die Hintergründe aufdecken und Medien, die darüber berichten.
Literatur
Knorr-Cetina, Karin, The Manufacture of Knowledge. An Essay on the Constructivist and contextual Nature of Science, Pergamon Press, Oxford 1981; (dt,) Die Fabrikation von Erkenntnis. Zur Anthropologie der Naturwissenschaft, Suhrkamp, Frankfurt am Main 1984
Ludwik Fleck (1934), Entstehung und Entwicklung einer wissenschaftlichen Tatsache: Einführung in die Lehre vom Denkstil und Denkkollektiv, textgleiche Neuauflage Frankf./M. 1980.
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Warum steht dies nicht bei Wikipedia?
Zu viele Löschtrolle am Werk?
Schon möglich. Ich habe seit Bestehen von Wikipedia etliche Einträge ergänzt -meist wird das Beste gelöscht (sogar mehrfach, wenn man die Geduld hat, Einträge mehrfach vorzunehmen) und nur Banalitäten, die jeder weiß oder im Lexikon nachschlagen kann blieben stehen -dennoch schaffen es einige wohl doch, dass ihre Beiträge schließlich stehen bleiben, daher verweise ich gelegentlich auf Wikipedia.
Bei manchen Kollektiven addiert sich nicht die Intelligenz, sondern die Dummheit -das scheint bei Wikipedia manchmal zu passieren. Manchmal ist es aber simple politische Zensur im Dienste der Westoligarchen, Nato-Machteliten usw.
Ich frage mich, ob dahinter bezahlte Beamte der Dienste stecken oder ob die Massenmedien-Hirnwäsche da ihre Folgen hat? Nur eine akademische Frage, da hinter den Mediengleichschaltungen ja diesselben Leute stecken.