01.07.2012 - 00:51 Uhr

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Klassenkampf auf dem Klo

Text: mellanhavande

Während ich an meinem Rechner Minesweeper spielte, hörte ich wie meinem Kollegen ins Ohr gebrüllt wurde. „Was ist das überhaupt für ne Scheiße?! Und die Rechnung vom November stimmt auch nicht...“ Karsten, so hieß der Kollege, hörte es sich emotionslos an und tippte mir und Micha auf die Schulter. Ich tippte Maike an und wir schauten zu dritt gebannt auf Karsten. Er nahm seine Maus in die Hand und leckte die linke Maustaste ab. Für mich war beim Tacker Schluss. Micha konnte sich durchringen den Bildschirm abzulecken und Maike ekelte sich sogar schon davor auch nur an einem Kugelschreiber zu nuckeln. Es stand fest: Karsten hat das gewagteste Büroutensil abgeschleckt. Ohne zu zögern griffen Maike, Micha und ich in unsere Taschen und gaben Karsten jeweils eine Zigarette.

Karsten, Maike und Micha lernte ich während der Schulung kennen. Irgendwelche Datenschutzgesetze wurden geändert und so mussten etliche Firmen all ihre Kunden anrufen und sie fragen ob weiterhin Interesse an Produktinformationen bestehe. Mir gefiel der Gedanke Leute anzurufen um zu fragen ob man anrufen dürfe. In der Schulung wurde uns in erster Linie gesagt was wir nicht sagen durften und ich schaute gelangweilt umher bis ich irgendwann von einem Burger die Gurkenscheibe nahm und sie in einem unbeobachteten Moment an die Decke schmiss. „Ich wette um ne Kippe, dass die kleben bleibt bis die Schulung vorbei ist.“ sagte ich zu den dreien um mich rum. Kurz schauten sie mich verstört an, gingen dann aber auf die Wette ein. Am zweiten und letzten Tag kam die Gurkenscheibe runter und ich gab den drei jeweils eine Zigarette.

Gleich am ersten richtigen Arbeitstag fiel mir auf, dass sich die Leitung mit dem angegebenen Pensum mächtig verschätzt hatte. Die Arbeit, die in 8 Stunden zu erledigen war, hatte man ohne Probleme in 1,5 bis 2 Stunden hinter sich gebracht. Karsten, Micha und Maike waren glücklicherweise leicht davon zu überzeugen, die Zeit mit möglichst viel Schabernack zu füllen und auf keinen Fall mehr als das absolute Minimum zu arbeiten.
Micha hatte darüber hinaus noch eine ganz eigene Strategie, von der er uns aber erst erzählte als wir nachfragten ob es ihm nicht gut gehe oder warum er ständig auf dem Klo wäre. Er öffnete auf diese Frage hin den Taschenrechner am PC. „Ich will zehn Euro auf die Stunde.“ fing er an „verdienen tu ich ein bisschen mehr als  sieben - sieben geteilt durch zehn sind 0,7 und 0,7 mal 60, also mal einer Stunde, sind 42 Minuten. 42 Minuten sitz ich hier und die restliche Zeit geh ich aufs Klo. So mach ich das immer wenn ich arbeite.“ Wir versuchten ihm zu erklären, dass keiner von uns hier wirklich arbeite, keine 42 Minuten in der Stunde, keine 30, vermutlich nicht mal zehn. Er blieb stur und ich fand es witzig. Mein abgebrochenes VWL-Studium kam mir in den Sinn, die Agenda 2010, Diskussionen über Zeitarbeit. Das Klogehen könnte die Zukunft der Klassenkämpfe sein.

Dass es nicht endlos so weiter gehen konnte war klar. Nachdem geklärt war, wer das gewagteste Büroutensil abschleckt, kam Maikes Vorschlag einfach mal zu schauen, wer am meisten von den Dingen die man nicht sagen darf in einem Gespräch unterbringt.
Ich machte den Anfang: „Moin Moin“ eröffnete ich das Gespräch „ich bin von der X-Firma, also genau genommen arbeite ich für die Y-Firma bzw. ganz genau genommen für eine Zeitarbeitsfirma, die mich an die Y-Firma ausgeliehen hat und weil die X-Firma keine Lust auf ein eigenes Call-Center hat, hat sie es outgesourced.“ Die Frau am anderen Ende lachte und fragte mich um was es denn ginge. „Tja nichts konkretes – ich wollte nur mal fragen ob ich bald mal wieder anrufen dürfte.“ Wieder lachte sie. „Eine schöne Stimme hast du.“ Sie bedankte sich und meinte, dass ich gerne mal wieder anrufen dürfe. „Ja das mach ich dann mal von zuhause aus. Wie ist denn deine Nummer?“ Wir fingen an uns zu unterhalten und auf meinem Bildschirm begann es rot zu leuchten – ich überschritt die maximale Gesprächszeit. Sie erzählte mir von ihren schlimmsten Jobs und ich erzählte ihr von den Wetten die wir hier machten. Was ich nicht wusste, war dass die Chefs mithörten, wenn die Gespräche zu lang wurden. Nachdem ich aufgelegt hatte, wurden Maike, Karsten und ich zum Gespräch gebeten. Micha konnte keiner zum Gespräch bitten, da er gerade mal wieder auf dem Klo war.

„Ich bin hier einiges gewöhnt.“ setzte er an. „Leute erscheinen besoffen, bekifft oder gar nicht zur Arbeit aber das hier ist der Gipfel.“ Um Fassung ringend holte er tief Luft und begann dann einen langen Vortrag darüber, dass man froh sein solle in der momentanen Wirtschaftslage überhaupt einen Job zu finden, über Verantwortung und Pflichten die man in einem Beruf habe und noch so einiges mehr. Auf dem Weg von seinem Büro zu unserem Platz kam uns Micha entgegen. Karsten brachte ihm die Hiobsbotschaft nicht gerade schonend bei: „Du Micha, ich glaube wir wurden gerade gefeuert.“ Etwas traurig schaute er uns an. „Schade die Toiletten waren hier echt geräumig.“



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8 Kommentare

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josiflosi
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Mag ich Mag ich nicht

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30.06.2012 - 20:03 Uhr
josiflosi

:)

sinaasappel
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Mag ich Mag ich nicht

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30.06.2012 - 21:44 Uhr
sinaasappel

Herrlich, danke!

flaschenbaum
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30.06.2012 - 23:03 Uhr
flaschenbaum

das war schön :)
mit der gurke probier auch auch mal

bangshou
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Mag ich Mag ich nicht

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01.07.2012 - 01:24 Uhr
bangshou

?Du Micha, ich glaube wir wurden gerade gefeuert.? Etwas traurig schaute er uns an. ?Schade die Toiletten waren hier echt geräumig.?

*

glitzerkugel
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Mag ich Mag ich nicht

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01.07.2012 - 09:47 Uhr
glitzerkugel

Schön.

noplacespecial
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1

01.07.2012 - 12:03 Uhr
noplacespecial

ein bisschen grinsen heute

ally1983
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Mag ich Mag ich nicht

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01.07.2012 - 17:42 Uhr
ally1983

chapeau!

apollyon
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Mag ich Mag ich nicht

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01.07.2012 - 23:01 Uhr
apollyon

Schöner Text!
Hat es denn mit der Anruferin mit der schönen Stimme geklappt?

Falls Du Maike und Karsten im nächsten Job wieder triffst, hier sind ein paar Ideen für Euch:
http://www.frag-vati.de/tipp/p/show/cate...


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