Die Sicht der Dinge.
Als sie ankamen, hoffte sie, dass er sich gut benehmen würde, dass er nicht so viel trinken würde, dass sie sich nicht so viel dummes Zeug anhören mußte von Fremden, die sie nicht wirklich interessierten, dass der Abend nicht endlos würde, dass sie sich zumindest ein klein wenig amüsieren würde, dass er sie nicht nur um der Höflichkeit Willen mitgenommen hatte, sondern, weil er stolz auf sie war, weil sie zu ihm gehörte und er das jedem zeigen wollte, ob’s interessierte oder nicht.
Jeder Augenblick zählte. Ab sofort oder auch schon länger. Sie wußte nicht mehr, wann das begonnen hatte. Irgendwann wurde ihr bewusst, dass ihre Zeit nicht endlos, ihr Leben nicht ewig so jung bleiben würde. Sie musste sich beeilen. Noch nie zuvor hatte sie so deutlich gespürt, dass sie alt werden würde. Nicht irgendwann, sondern schon sehr bald. Die ersten 31 Jahre waren bereits vorbei und die nächsten 30 würden genauso schnell vergehen. Nicht in diesem Augenblick, nicht in einer Woche, aber im Ganzen dennoch rasend schnell, sodass man sich ständig anstrengen musste, seiner Zeit bewusst zu werden, sich zu erinnern an jeden Augenblick so gut das in dieser Zeit eben ging. Misstrauisch war sie geworden. Guckte sich jeden und alles genau an und fragte sich schon so oft, wem oder was sie in der vergangenen Zeit begegnet war. So vieles hatte sie schon vergessen, an so viele Worte konnte sie sich nicht mehr erinnern, weil sie stets sorglos umgegangen war, mit dem kostbaren Jungsein.
Seine subtilen Gemeinheiten nagten schon so lange an ihr, deren er sich selbst noch nicht einmal bewusst war. Umso schlimmer traf es sie, wenn er sie mal wieder enttäuschte, ohne es zu wissen. Als sie ankamen, ging er vor ihr her, nahm sie nicht bei der Hand, auch nicht in den Arm. Sie kannte das schon und doch ärgerte sie sich darüber. Dieser Umstand wäre spätestens nach den ersten drei Drinks vorbei, dann erst würde er sie umarmen, vielleicht sogar mal küssen oder bei der Hand nehmen. Dieses Ritual war ihr wohlbekannt, schon so oft beobachtet und analysiert. Aber alle Gründe dieser Welt interessierten sie nicht. Sie sah nur, dass er sie nicht behandelte, wie man seine Geliebte behandelt. Alle sahen das, nur er selbst nicht. Seine Souveränität beschränkte sich darauf, sie mitzuschleppen, vorzustellen, meist jedenfalls und ansonsten gepflegte Konversation zu betreiben über banale Dinge, die jeder jedem erzählt, weil er nichts anderes zu erzählen hat. Nie kam er aus sich heraus, nie tanzte er mit ihr oder küßte ihr die Hand. Wie gern hätte sie sich ausgelassen mit ihm amüsiert bis in den frühen Morgen. Wie gern hätte sie in seinem Mittelpunkt gestanden, die anderen waren ihr egal. Ihn wollte sie betören, ihn wollte sie verführen und glücklich sehen.
Kaum dachte sie, dass es ein schöner Abend wird, verfing er sich in ein langweiliges Gespräch mit einem seiner Freunde und ließ sie sitzen. Lange sitzen. Viel zu lange. Die Blicke der anderen Männer sagten, was sie dachte: wieso läßt der Idiot sie so lange allein. So eine Frau läßt man nicht warten. Wenn ich an seiner Stelle wäre… sie kannte diese Blicke und wusste, was sie bedeuten. Sie ignorierte sie, stimmte ihnen aber insgeheim zu. Nicht um der anderen Männer Willen. Sondern, weil ihre Zeit so verdammt knapp war. Zu knapp, um in irgendeiner Barecke zu versauern.
Sie wehrte sich dagegen böse zu werde, wollte keine schlechte Laune bekommen, wollte ihn mit ihren Zickigkeiten nicht bloß stellen vor seinen Freunden und Kollegen. Mühsam unterdrückte sie ihren Ärger, schluckte ihn mit ihrem Wasser hinunter, rauchte ihn mit ihren Zigaretten weg, so gut es ging. Immer wieder fragte sie sich, was er an ihrer Stelle machen würde, würde sie ihn so sitzen lassen. Aber diese Gelegenheit ergab sich nie.
Sie überlegt seine Reifen zu zerstechen, seine Wohnung anzuzünden, ihn vielleicht sogar umzubringen. Aber ach – dazu ist sie viel zu feige.
Und so scheitert eben alles, was wir tun und anfangen zu tun. Man bleibt immer an der Laune anderer hängen, fühlt sich ausgeliefert und sitzen gelassen, schlecht behandelt und ungeliebt. Was einst so heiß ersehnt und so kühn toleriert und geliebt, wächst zu einem Geschwür, dass man sich herausoperieren lassen will. Und dann wird aus Liebe Hass, aus Hass wird Wut und aus Wut Gleichgültigkeit. Und so wird es weitergehen, bis in alle Ewigkeit.