Menschlich.
Er verzettelte sich. Wieder und wieder. Und wusste nicht, wie er es ändern oder gar verhindern könnte. Immer wieder geriet er in die gleichen Situationen. Es war wie immer, fiel ihm quasi in den Schoß. Er wollte es eigentlich nicht. Als er mit ihr telefonierte ahnte er, dass es nicht bei einer harmlosen Begegnung bleiben würde und er haderte mit sich. Sollte er fahren und sich der Gefahr einer Affäre hingeben und gleichzeitig der süßen Versuchung, der Aufregung, der neuen Zärtlichkeit?
Der neue Horizont, der die Sonne anders auf- und untergehen lässt, der die Farben schriller macht, Geräusche lauter, Gefühle intensiver, Gedanken wirr und frisch, so wie früher, in seiner Jugend. Das war so verlockend, so unglaublich unwiderstehlich, dass er im Grunde schon wusste, dass er es tun würde.
Seine vernünftige Seite schalt ihn schlecht. Er zog den Kopf ein, versteckte sich vor ihm – dem schlechten Gewissen. Er wollte nichts davon hören, aber diese Stimme war laut. Sie schrie ihre Bedenken in sein Gehirn und er wagte es fast nicht, sie laut auszusprechen, aus Angst, sie könnte sich als etwas erheben und Gestalt annehmen. Er ließ sich gut zureden, von ihr. Der schönen Unbekannten, am anderen Ende der Welt – so kam es ihm vor. Fast exotisch und doch nicht fremd, lang ersehnt, heiß erträumt, ungeduldig erwartet. Jetzt, in greifbare Nähe gerückt, nur noch mystischer, geheimnisvoll, fremd und doch vertraut.
Seine Gedanken rasten, schoben alle Bedenken beiseite. So lange musste er entbehren, musste sich zurücknehmen in der Blüte seines Lebens, mittendrin im Mann sein. Hier und jetzt wollte er es, wollte nicht aufgrund der Vernunft seinen Lebensdrang, seine Gier unterdrücken müssen. Ihm waren schon so lange die Hände gebunden und er lief in seinem Leben auf und ab, rastlos, unzufrieden, hungrig und doch voll bis obenhin mit Ablenkung und Einerlei und Einöde. Er hasste dieses Gefühl, wollte es nie. Er hatte gekämpft – um beides: Freiheit und Sicherheit. Aber beides auf einmal schien ihm nie vergönnt. Er hasste es. Er strampelte sich dafür ab – und scheiterte doch, wieder und wieder.
Dieses Mal wollte er es bewusst und nahm es sich. Er gab nach, konsumierte, sog auf, verschlang und hinterließ einen Haufen Chaos in seinem Kopf. Wie ein Haufen Sperrmüll lag es vor ihm. Völlig verkatert vom Adrenalin und doch stocknüchtern sah er sich das Chaos an und bereute. Und er fuhr wieder zurück in sein ödes Leben, das ihm nichts mehr versprach außer Alltag und Stagnation. Und er dachte und dachte, und fand doch keine Lösung. Es war nur eine Frage der Zeit, bis ihm das Gleiche wieder passieren würde. Es gab kein Entkommen und keine Lösung war in Sicht. Es würde auch nichts von allein passieren, das ihm die Entscheidung abnehmen würde. Er wusste aber auch nicht, was er tun konnte, um diesem Irrsinn ein Ende zu machen. Es passierte einfach immer wieder und jeder noch so gute Vorsatz scheiterte bereits im Ansatz. Er ließ es geschehen und er würde es wieder tun. Vielleicht war das sein Leben, vielleicht auch nur ein Irrtum. Was auch immer es war: er würde sich nie sicher sein und es immer wieder geschehen lassen, wahrscheinlich für immer. Mit dieser seinen Gewissheit könnte er vor den Traualtar treten, ihr ewige Treue schwören und es wäre eine Allianz fürs Leben. Und die einzige Konstante, die er jemals haben würde.
Seine kühnen Jungenträume von einst wurden zu einer Ahnung. Er ahnte, dass Zeit kein Wert ist, auf den er Einfluss haben würde. Das machte ihn traurig und lähmte ihn. Er ahnte die Sinnlosigkeit seines Lebens – eines jeden Lebens. Und konnte doch nichts dagegen tun.