Die Tür    



Der Flur ist lang, kalt und kahl, und er wäre finster wie die Nacht, wie der Tod, wenn die Leuchtstoffröhren an der Decke schlafen würden. Kein Geräusch stört die Stille, Leben scheint an diesem Ort undenkbar, ein lebensfeindlicher Flur also, eine Wüste, eine Einöde. Doch dann taucht eine Tür aus der Flurschlucht auf, eine blaue Tür in einer einstmals weißen Wand. Und neben der Tür bietet ein Klingelknopf seine Dienste an, vielmehr eine Leiste, eine schmutzigweiße Klingelleiste, auf die mein Zeigefinger zuschießt, nachdem sich die Tür als eine verschlossene herausgestellt hat. Anstatt eines Summens, das sich im Normalfall an ein Klingeln anschließt und signalisiert, dass ein Schloss elektrisch entsichert wird und die Tür zum Öffnen freigibt, bohrt sich eine Stimme in die Stille, eine Stimme, nicht aus heiterem Himmel, sondern aus dem Lautsprecher einer Gegensprechanlage, die unterhalb der Klingelleiste kauert. Die Stimme fragt nach meinem Begehren. Ich neige Kopf und Oberkörper zu der Gegensprechanlage hinab, ich verneige mich vor einer unsichtbaren Macht mit metallisch tönender Stimme und sage, dass ich mich bei Frau Sonstwo um eine Stelle als Aushilfsaushilfe bewerben wolle. Darauf werde ich gefragt, ob ich einen Termin habe. Mein Weltbild gerät ins Wanken, meine Identität treibt auf den aufgewühlten Wellen der Verunsicherung, von einer einzigen Frage aus der Verankerung gerissen. Jetzt ist Eile geboten, jetzt bedarf es eines ganzen Mannes: Ich muss mich innerhalb einer Sekunde entscheiden, ob ich die Frage bejahen und also lügen oder ob ich mir treu bleiben und sie verneinen solle. Dann spreche ich mir mit einem gehauchten Nein mein eigenes Urteil aus. Denn die Tür wird mir nicht geöffnet, sie bleibt so fest verschlossen wie ein Stadttor während einer Belagerung. Die unsichtbare Macht mit der metallisch tönenden Stimme bleibt unsichtbar, sie bedeutet mir, meine Bewerbung in den Briefkasten zu werfen und wünscht mir einen guten Tag.

 



Neu von
Rüdiger Saß:
Das nervöse Zeitalter: oder Literatur zum Kilopreis


geboren 1966 | Wohnhaft in Hamburg | Soziologe | zuletzt erschienen: Neues von der Heimatfront (Roman). Bench Press Publishing, 2008. Siehe auch www.myspace.com/leereimer - Noch zu haben: Nachtstühle - Erzählungen und Prosa.
'Die Tür' © 03/2011
Buzzwords: Krimi, Story, Text, Titelstory, , , , , , , , , , , , , , , , , , , ...
 

Wie fanden Sie das?


Specials:

Dan Roccos Starke-Frauen-Schnellkrimis


DDD

Schnellkrimis

Tatorte en masse
Hanna Scotti: Ausstellung Wortbilder


Hanna Scotti

Wortbilder

Text auf Foto


Frisch:

Silberlöffel

Milena kann keinen Kopfstand

Oh, Milena. Sie kehrt von Zeit zu Zeit zurück in meine Erinnerung, wie sie sich wieder einmal in ihrem Silberlöffel betrachtet, ...
Motel6

Florida, Motel 6

Ein Quarter und das Bett vibriert. / Schwüler Gang, dreissig Dollar / ...
katze (Foto: der.wirt)

Damals

Scheiße, Mann / ich hab doch nicht gedealt // Ich hab hundertzwanzig Piepen zusammen / gekratzt und 25 Gramm gekauft …

Klassiker aus Text/Lyrik:

Foto: doncish

An den unbekannten Mann

Gestern um diese Zeit hast du neben mir gesessen. Es wäre leicht gewesen, dich anzusprechen. ... …
theaterkritik_rot560x_(foto-AndreasWinterer)

Duo Abgesang

skelettierte finger hauen in die tasten musik zur apokalypse: dissonante regungen des prinzips zerstörung …
knie_(publicdomain)_560px

Erinnerung an dein wummerndes Knie

In deinem Bett lieg ich neben dir, weil du nicht wolltest dass ich noch fahre ... …
theaterkritik_rot560x_(foto-AndreasWinterer)

Duo Abgesang

skelettierte finger hauen in die tasten musik zur apokalypse: dissonante regungen des prinzips zerstörung …
ichwillnicht

ICH WILL NICHT

ICH WILL NICHT ICH WILL NICHT ICH WILL NICHT …

Literarische Blogroll: