Kadaverbericht – Marionettenwelt    



In einer tüchtigen Nacht waren wir in die Kadaver hineingewachsen. Angenehm war es, die träge Wärme innerhalb des Fäulniskostüms genießen zu können ohne dabei die eigenen Heizorgane zu verschleißen. Auf der anderen Seite waren wir phantastisch hässlich, dabei üppig bedeckt von stinkender Eiterborke und verkrusteten Exkrementen. Selbstverständlich waren wir unerträglich abstoßend in unserem immer größer werdenden, zerfetzten Lumpenrudel, das  schon von weitem an seinem heiseren Jaulen erkennbar war. Ein soziales Vakuum, kilometerlang, umgab uns Reisenden der Abscheulichkeit. Wir wurden gemieden und mieden selbst in massierten Attacken das Jenseits unserer Verwüstung. Ein weiterer Rückzug in die Abgeschiedenheit war naheliegend, ohnehin wichen uns die Reinhäutigen, die sich unter dem Licht eingerichtet hatten, zuverlässig aus. So krochen unsere klebrigen Pfoten, welche die aufgegasten Eingeweide trugen, in bösartige Löcher. Unter dem Boden atmeten wir das Abenteuer unseres Exodus, erweiterten Hohlräume und zähmten das Erdreich. Mühelos wäre das Abstreifen unserer Kadaverkleidung gewesen, doch wir wollten uns schonen, uns konservieren für den kommenden Terminalttriumph. Begleitet vom hymnischen Pochen des Erdinneren machten wir Pläne und schliffen die Waffen, schmiedeten neue. Unsere Lust war gigantisch und hemmungslos, die ihr innewohnenden Triebe waren ungezügelt, sodass sich einzelne von uns bisweilen mörderisch an anderen vergangen. Nicht aus Hass oder dem Gefühl der Bedrohung ereigneten sich diese Morde unter Gleichen, diese Kämpfe unter Kameraden. Es waren Übersprungshandlungen kraftvoller, von der Natur mit allen Schätzen bedachter Organismen, die in der Finsternis keine Möglichkeit zur Abreaktion hatten, sondern ihre Energie an wehrhaften Objekten erprobten und zu steigern versuchten. Verluste in den eigenen Reihen waren das Charakteristikum unseres Siechtums und das Stellwerk unserer Populationsgröße. Nicht immer waren die Raubzüge in die Körperschaften der Reinhäutigen erfolgreich, dann mussten wir hungern, wurden böse und wild. Es war erlaubt, zu Zeiten großer Population sogar erwünscht, sich selbst zu reißen, zu verdauen und hieraus für die Art Kraft zu schöpfen. Aus dem Unverdaulichen wurden die Kojen der Herrscher geformt. Trockene, harte Schalen, in denen man ruhte und dem Hass einen Zopf flocht. Nebenbei: Jeder war Herrscher und übte seine Macht in dieser erklärten Jedermannsdespotie aus. Die fortwährende Dunkelheit unseres Habitats bot das Glück endloser Dämmerung. Immer war es düster, die Sichtverhältnisse waren schlecht. Erkennbar war wenig, aber das Notwendige umso deutlicher. Form, Größe, Distanz, Bewegung – die Aspekte des Kampfes, die Koordinaten marschfähiger Brutalität. Ständige Schlachtbedingungen liebkosten uns selbst im Schlaf. Wir schliefen mit Messern im Bauch, steckten sie uns selbst tief hinein. So fühlten wir durch die Nähe der Scheide unter dem Herzen unserer prompte Schlagbereitschaft. Klingen kosten also unser Innerstes und das Gekröse rieb sich an den schärfsten Flächen.  Nie waren wir lebendiger als in den Zeiten der eröffneten Gefäße, als wir freien Willens unser Leben in die aufgesperrten Schlünder der Unserigen gossen. Wir lebten nur kurz, aber in reinem Hass und zweifellos triebhaft.

Diese Zeiten sind nun vorbei. Helligkeit ist unsere neue Herrscherin und wir misstrauen ihren Schergen, den in den Winkeln tanzenden Schatten. Verpaart, zusammenliegend, aufeinander röchelnd, sich fortpflanzend und mitunter freundliche Worte ausstoßend leben wir nun in den Frühlingswiesen und kauen den Sauerampfer, schlürfen den Honig, den uns  freundliche Insekten einflössen. Die Gräser kitzeln die Nüstern und die narbigen Fratzen werden vom Niesen erfreut. Man ängstigt sich vor Löchern und Gruben, aus denen die Finsternis herausgähnt und an die alten Neigungen erinnert. Im Vorbeilaufen streicheln wir uns über die Stirn, die Arme, das Geschlecht. Schmiegsame Stunden der steinernen Eintracht. Lächeln und geduldiges Lauschen, dem Summen der Gefährten, füllen die Tage. Wir leben  nun eine Erzählung, die unsere Feinde einst schrieben.


Geb. 80 in Ulm, Studium der Medizin und Philosophie..
'Kadaverbericht – Marionettenwelt' © 11/2012
Buzzwords: Story, Text, Titelstory, , , , ...
 

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