Leonardo    



Leonardo sondierte die Örtlichkeiten und bezog Position. Es war Neumond. Er glaubte, weil er eine Art Migräne verspürte, dass morgen eine Kaltfront aufziehen würde. Leonardo stand in einer schmalen dunklen Sackgasse, die von der Hauptstraße schlecht einzusehen war. Nach Mitternacht schlug die nahe gelegene Turmuhr nicht mehr, vereinzelt flanierten Touristen, und vom Hafen, dort, wo die Diskotheken waren, hörte man Stimmen in fremden Sprachen. Leonardo bewegte sich nicht, er stand da und war vom Relief der alten Steinmauer kaum zu unterscheiden. Warten war sein Job. Er blieb nicht lange in einer Stadt. Niemand kannte ihn, weil niemand genau sagen konnte wer er war. Seine Hände rochen permanent nach Desinfektionsmittel, sie waren feingliedrig und weiß und lang. Der Rest seines Körpers glich einer Schlange, er fiel nirgends auf, weil nichts auffälliges an ihm war.
Zwei Motorräder preschten vorbei. Für einen Sekundenbruchteil erhellten die Lichtkegel den Eingang der Gasse und huschten über die alte Steinmauer. Alles sah aus wie immer. Wer sich vergnügen wollte, ging runter zum Hafen. Dort blieb man bis es hell wurde. Nur Leonardo würde nicht so lange bleiben. Er hatte vor, um diese Zeit längst wieder weg zu sein. Er reiste mit wenig Handgepäck und besuchte keine Stadt ein zweites Mal. Wenn sein Körper einer Schlange glich, so glich sein Verhalten dem einer Spinne – ihm reichte eine schmale, dunkle Gasse.

Bereits nach drei Jahren hatte er aufgehört, die Menschen zu zählen. Sie wurden gefunden, obduziert und bestattet. Sie hinterließen Hüllen und leere Seelen. Leonardo tötete nicht aus Lust und auch nicht aus Habgier, er fühlte sich einfach nur gut. Seine Opfer waren so willkürlich gewählt, dass die Polizei vergeblich nach Motiven suchte. Im Tageslicht wurde er kaum beachtet. Niemand konnte sich an ihn erinnern. Jede Stadt hatte ihre Touristen, sie kamen und gingen, und bevor sie gingen, hinterließen sie eine breite Spur. Ganz anders bei Leonardo: Wenn er aus dem Zug stieg, besuchte er das nächste Kaufhaus und kleidete sich neu ein. Die alten Sachen warf er in den Müllcontainer. Außer drei verschiedenen Kreditkarten hatte er nichts, was auf seine wirkliche Person hindeutete.

Es fing vor acht Jahren an. Leonardo war ein verschrobenes Einzelkind. Seine Mutter starb bereits im Wochenbett, während sein Vater (Immobilienmakler) von jedem Geschäft sagte, es sei das beste, d.h. er übervorteilte die Leute nach Strich und Faden, und war dementsprechend unterwegs und selten zu Hause. Als sein Vater vor acht Jahren auf mysteriöse Weise ums Leben kam und Leonardo einen Haufen Geld erbte, nahm er eines Morgens das Rasiermesser und schnitt Rufus, dem jungen Schäferhund des Butlers, der nur spielen wollte, im Vorbeigehen die Kehle durch. Man könnte es als Reflexhandlung bezeichnen – reflektierend auf ein großes Nichts. Der Hund gurgelte, knickte zusammen wie jemand dem man langsam den Boden unter den Füßen entzieht, und vom Hals schoss das Blut in pulsierenden Fontänen auf den teuren Teppich. Leonardo betrachtete wie sich der Hund streckte, drehte, röchelte und verblutete. Ab da dachte er wieder an seinen Vater, nun wollte er einem Menschen beim Sterben zuschauen, seitdem ließ ihn der Gedanke nicht mehr los. Er wurde schweigsamer und traf seine wenigen Bekannten immer seltener. Schließlich veräußerte er Immobilien und Mobilien aller Art und richtete sich drei verschiedene internationale Konten ein. Er machte allgemein bekannt, dass er in die Südsee auswandern würde. Danach verschwand er von der Bildfläche. Beinahe spurlos.

Im Bahnhofsviertel sprach ihn eine Prostituierte an, eine von denen die nicht wussten wohin, die weder Zimmer noch Zuhälter hatten, weil sie längst zu alt für diesen Job waren und nichts abwarfen. Er nickte nur und sagte, lass uns gehen, doch wohin war ihm nicht klar, aber er zeigte sein Geld. Die Frau nickte ebenfalls. Sie war gewillt das schnelle Geld zu machen, möglichst oral, das sparte das Ausziehen und ein Kondom. Sie überquerten zwei Straßen und landeten vor einem offenen Tor. Hier, im Hinterhof, schlug sie vor, und da merkte Leonardo, was er insgeheim längst wusste: Erst wenn ein Mensch stirbt, bekommt das Leben einen Sinn. Das Geld wurde Mittel zum Zweck. Die alte Prostituierte lächelte, nahm die Scheine und fummelte an seiner Hose. Bevor sie sich hinkniete, holte er das Messer aus der Tasche. Die Bewegungen seiner beiden Hände waren wie eine einzige, mit der rechten Hand hielt er ihr den Mund zu, mit der linken vollzog er einen sauberen Kehlkopfschnitt. Dann schaute er sie an. Er blickte in zwei weit aufgerissene Augen, in denen sich nichts als grenzenlose Verwunderung spiegelten. Es dauerte 10, vielleicht 20 Sekunden. Die Arme der Prostituierten entkrampften sich und hingen schlaff herab, das Blut lief ihr die Brust und den Bauch runter und bildete zwischen ihren Beinen eine hässliche rote Lache. Sie knickte ein und war tot, Leonardo hatte sie sterben gesehen.

Ihm fröstelte ein wenig. Er bezeichnete sich längst als Profi, so wie ein Killer der aufgehört hat die Toten zu zählen. Die feuchte, nach frischem Moos riechende Gasse lag still und doch im Puls des Lebens. Leonardo bediente sich einer speziellen Yoga-Technik, sowie Selbsthypnose. Nachts waren seine Augen wie eine Wärmebildkamera. Zudem besaß er die Gabe, besonders im Dunkeln, einfach nicht wahrgenommen zu werden. Es kam vor, dass sich ein Mann neben ihn stellte, urinierte und sicher war, dass ihn keiner beobachtete. Leonardo suchte den richtigen Menschen. Er entschied intuitiv, wem er beim Sterben zuschauen wollte.
Auf der Hauptstraße wurde es ruhiger. Das Stimmengewirr klang ab. Kurze Stille unterbrach den Strom der Motorengeräusche. Die Stadt bereitete sich auf ein wenig Ruhe vor. Es war eine Stadt wie sie es überall gab, wo mehrere Nationen zusammenfanden. Leonardo kannte diese Städte. Und die Menschen. Niemand kam auf die Idee, dass er solchen Städten den Tod brachte. Eine Katze beobachtete ihn von der gegenüberliegenden Mauer, aber sie schlich langsam weg, als die Schritte eines betrunkenen Mannes näher kamen.
Leonardo säuberte das Messer und seine Hände mit Lysol.

my name is murderkid (Foto: H.Malorny)


absolviert 1974 den Hauptschulabschluss cum laude. Stationen: Verkäufer, Vertreter, Gleisbau, Hilfsarbeiter, Faktotum, Arbeitslosengeldempfänger, Bundesbahn, Auslandsaufenthalte in Frankreich, Italien, Südostasien. Ledig, verheiratet, geschieden, Vater mehrerer Kinder. Verfasst Gedichte, Geschichten, Romane und Artikel. Trinker mit den üblich kontroversen Meinungen. Einige Lesungen. Zur Zeit Sonderreiniger..
'Leonardo' © 10/2014
Buzzwords: Krimi, Story, Titelstory, , , , ...
 

Wie fanden Sie das?


Specials:

Dan Roccos Starke-Frauen-Schnellkrimis


DDD

Schnellkrimis

Tatorte en masse
Hanna Scotti: Ausstellung Wortbilder


Hanna Scotti

Wortbilder

Text auf Foto


Frisch:

Silberlöffel

Milena kann keinen Kopfstand

Oh, Milena. Sie kehrt von Zeit zu Zeit zurück in meine Erinnerung, wie sie sich wieder einmal in ihrem Silberlöffel betrachtet, ...
Motel6

Florida, Motel 6

Ein Quarter und das Bett vibriert. / Schwüler Gang, dreissig Dollar / ...
katze (Foto: der.wirt)

Damals

Scheiße, Mann / ich hab doch nicht gedealt // Ich hab hundertzwanzig Piepen zusammen / gekratzt und 25 Gramm gekauft …

Klassiker aus Story/Lyrik:

SANYO DIGITAL CAMERA

Und dann …

… dann träumte sie von einem Leben in der Stadt, denn sie wusste, Stadtluft mache ... …
Foto: doncish

An den unbekannten Mann

Gestern um diese Zeit hast du neben mir gesessen. Es wäre leicht gewesen, dich anzusprechen. ... …
Laken

Überleben auf dreckigen Laken

"Das Laken hab ich seit Monaten / nicht mehr gewechselt." …
knie_(publicdomain)_560px

Erinnerung an dein wummerndes Knie

In deinem Bett lieg ich neben dir, weil du nicht wolltest dass ich noch fahre ... …
theaterkritik_rot560x_(foto-AndreasWinterer)

Duo Abgesang

skelettierte finger hauen in die tasten musik zur apokalypse: dissonante regungen des prinzips zerstörung …

Literarische Blogroll: