Titelstory

Dynamik einer Meinung
Eine Menschentraube versammelt sich. Frauen, Männer, jung, alt. Keiner kennt einander, niemand steht in Gruppen, jeder für sich. Allein in einer Menge unbekannter Gesichter. Fragende Blicke tauschen sich aus, doch reden will niemand; aus Vorsicht und Angst, etwas Falsches zu tun. Die Welt hat sich verändert durch diese bedachten Schritte. Erst denken, dann handeln, heißt es. Und doch gefriert dadurch eine Masse zu Eis. [mehr]

Milena kann keinen Kopfstand
Oh, Milena. Sie kehrt von Zeit zu Zeit zurück in meine Erinnerung, wie sie sich wieder einmal in ihrem Silberlöffel betrachtet, einem Erbstück von ihrer Oma, um ihr Spiegelbild auf den Kopf gestellt zu wissen. Sie zelebrierte es immer, nachdem die anderen Mädchen und Jungen sie gehänselt hatten, weil Milena keinen Kopfstand konnte. Für einen Kopfstand braucht man keine Beine, lästerten sie. [mehr]

Muay Thai
Der Boxring war der Mittelpunkt einer überdachten Halle, ringsherum hatte man Tresen und Tische drapiert, an denen Nutten bedienten und Bier, Schnaps und sich selbst verkauften, während die Touristen zum Kurzweil auf die Boxer wetteten. Obwohl in Thailand beides verboten ist, nämlich die Prostitution und das Glücksspiel, florierte es prächtig. Darum baute der Veranstalter jeden Abend eine kleine Sensation ein, nach dem Motto, Thais gegen den Rest der Welt, und mal war es ein grimmiger Russe, ein überheblicher Amerikaner, ein ... [mehr]

Der Geist
Der Umgang mit dem Geist in meinem kleinen Zimmer gestaltet sich nun schon seit einigen Jahren konfliktfrei und harmonisch. Nach einer kurzen Phase des Misstrauens und – wie ich gestehen muss – der Angst (die wahrscheinlich nur von mir ausgelebt wurde und damit also eine einseitige Gemütsbewegung blieb) gingen wir uns aus dem Weg. [mehr]

Hotel America
"Es sind Kinder, quadratisch und rund zugleich. Besser gesagt: voluminös. Sie haben Plastikeimer dabei, sie füllen sie schichtweise mit Toast, Würstchen, Marmelade und Rührei. Die Mutter bittet einen Kellner um Traghilfe. Bevor sie alle meinen Tisch erreichen, bin ich weg. 10 Uhr, die Bar öffnet. Ich brauche meinen Arm nur auf den Tresen zu legen, damit der Kellner das dämliche Armband erkennt, dann mixt er mir einen Gin-Tonic. All-inclusive. Wer das bucht, braucht Potenzial, ob in Leber, Leib oder Seele." [mehr]

An den unbekannten Mann
Gestern um diese Zeit hast du neben mir gesessen. Es wäre leicht gewesen, dich anzusprechen. Fast eine Stunde lang saßen wir nebeneinander, auf Armeslänge. Ich vor meinem Notebook, du vor deinem. Du hattest im IC Fahrradabteil den Platz direkt neben mir und ich hätte dich berühren können und hätte dazu nicht einmal meinen Arm ganz ausstrecken müssen. [mehr]

Leonardo
Leonardo bewegte sich nicht, er stand da und war vom Relief der alten Steinmauer kaum zu unterscheiden. Warten war sein Job. Er blieb nicht lange in einer Stadt. Niemand kannte ihn, weil niemand genau sagen konnte wer er war. Seine Hände rochen permanent nach Desinfektionsmittel, sie waren feingliedrig und weiß und lang. Der Rest seines Körpers glich einer Schlange, er fiel nirgends auf, weil nichts auffälliges an ihm war. [mehr]

Und ewig stinkt der Schritt
Regen strähnt, und ewig stinkt der Schritt, Regen strähnt und stöhnt, von links oben nach rechts unten, es tropft aus einem aufgewühlten Wolkendickicht heraus, und die Reifen unzähliger Autos rauschen über nasses Pflaster hinweg, und die Bäume, kahl wie ein Glatzkopf, wiegen sich zur Melodie eines rauen Winterwindes, und ewig stinkt der Schritt. Ein Tropfenspektakel, dazu das unablässige Reifenrauschen und ewig stinkt der Schritt. [mehr]

Ohne Titel.
Die blaue Gaskartusche hatte er im Laden montiert, unter Aufsicht der Verkäuferin. Da er zusätzlich eine Rolle Klebeband kaufte, ein sogenanntes Gaffa-Band, ging sie davon aus, hier rüste sich ein junger Mann für den Besuch eines Musikfestivals. Das erklärte sie sowohl gegenüber der Polizei wie auch der Mutter, die zwei Wochen später den Laden aufsuchte. [mehr]

Die Flucht
Marta war sechs Jahre alt, als sie ihre Heimat verlassen mussten, sie, ihre Mutter und ihre sechs Geschwister. Vater war nicht da, er konnte nicht bei ihnen sein, Vater war Soldat. Marta erinnerte sich an alles, nach vielen Jahren, sie erinnerte sich genau. [mehr]