Ich war in Indien, obwohl ich kein Flugzeug bestiegen habe. Wie das? Nun, ich habe einfach ein Buch aufgeschlagen und fand mich plötzlich auf den Straßen von Bangalore wieder. Sebastian Lörscher hat mich mit seiner Graphic Journey „Making Friends in Bangalore“ mitgenommen und vollends entzückt. Nicht nur die Geschichte, auch die Gestaltung des Buches ist einfach hinreißend. Der Buchschnitt ist rot eingefärbt, und rot ist auch das Skizzenbuch von Sebastian Lörscher, das die Grundlage für dieses zauberhafte Werk bildet.
Ich finde kaum Worte, weil ich gar nicht weiß, wo ich anfangen soll. So viel gibt es zu diesem Buch zu erzählen, das vielmehr ein Kunstwerk ist. Die Zeichnungen sind unglaublich lebendig und beamen mich mitten hinein ins pralle Geschehen. Einmal aufgeschlagen, versinke ich darin und möchte es gar nicht wieder schließen, weil die Lektüre riesengroßen Spaß bereitet.
Am Anfang des Buches steht aber das Wort, hier vom Illustrator Foreword genannt. Darin berichtet er, wie er im November 2011 für vier Wochen nach Bangalore gereist ist. Eine Stadt in Indien, die mit ihren zahlreichen IT-Unternehmen seit Jahren einen wahren Wirtschaftsboom erlebt. Dem Illustrator ging es wie mir, denn er kannte Indien bis dahin nur aus dem Fernsehen. Der Alltag der Inder war ihm ebenso fremd wie die kulturellen Geflogenheiten. Er war noch nie in einem Tempel gewesen, wusste nichts „über dreitägige Hochzeitsrituale“ oder kannte die Rikscha bis dahin nur von außen. Diese Lücke wollte er während seiner Reise schließen. „Da ich über all das gerne mehr erfahren wollte, tat ich das, was man als Zeichner eben tut, wenn man an einem fremden Ort ist und sich nicht auskennt: Ich setzte mich auf die Straße – und zeichnete.“
Zunächst beäugen die Leute zurückhaltend aber neugierig, was der blasse Mann dort treibt. Im Buch sieht das so aus: Linke Seite das rote Skizzenbuch, wobei die linke Hand einen Stift hält, und die rechte das Buch sichert. Auf der rechten Seite tauchen erst drei indische Köpfe auf, darunter folgen sechs und ganz unten 16. Einmal umblättern bitte. Hier gucken lachende, begeisterte indische Köpfe auf das Skizzenbuch, das Sebastian Lörscher ihnen zeigt. Und mit jeder Zeichnung öffnen sich die Menschen von Bangalore dem fremden Mann mehr und mehr. Rechts sieht man dann den Rücken des roten Buches und staunende Inder.
© Sebastian Lörscher/Edition Büchergilde (4)
Sebastian Lörscher erzählt mit seinen Illustrationen herrliche Geschichten. Mal sind es Momentaufnahmen wie ein Straßenabschnitt, der mit schwarzer Kohle gezeichnet wurde. Hierbei wurde das Skizzenbuch eins zu eins übernommen. Manchmal gibt es auch Dialoge, die er mit Sprechblasen abgebildet hat. Herrlich, wie die Sprache zwischen Englisch und Hindi hin und her springt. Gleich zu Beginn stellt ein Inder die Frage, woher der exotische Zeichner denn käme. Und nachdem der Fragende das Wort Germany gehört hat, kommt eine Antwort, die wir im Laufe des Buches immer wieder lesen werden: „Aaah… Germany! Good people! Very hard working!“ Sebastian Lörscher gelingt es, mit seinen leuchtenden Buntstiftfarben Alltagsbegebenheiten, wie beispielsweise die laute, volle Straße, detailtreu wiederzuspiegeln. Ich rieche förmlich die Abgase und höre den Lärm.
Herzhaft gelacht habe ich über den Rikschafahrer, der den Illustrator mitnimmt, ohne überhaupt zu wissen, wo sich die Straße befindet, in die sein Kunde möchte. Der Fahrer hält immer wieder an und fragt fremde Menschen, ob sie die Devanahalli Road kennen würden. Die Auflösung möchte ich nicht verraten. Genauso erheiternd ist der verrückte Maler, der angeblich alle berühmten Menschen gemalt hat. „Very famous!“ und „Very big name!“ sind seine Lieblingssätze. Als der Illustrator den Künstler nach Franz Beckenbauer fragt, kann er mit dem Namen leider nichts anfangen, aber Michael Jackson hat er hier… irgendwo… muss er doch sein….Hmm, oder doch nicht? „I can’t find him…“ Dafür aber „Woman of the shampoo advertisment!“ Und natürlich: „Famous!“ Here look!
Sebastian Lörscher besucht Geschäftsmänner, unterhält sich mit jungen Irakern, fährt bei der 20-jährigen Rucha auf dem Motorrad mit, die ihm stets zwei Fragen stellt, wobei er sich stets für eine Option entscheiden muss. „Taking a ride or not taking a ride?“ „Burgers or pizza?“ Nebenbei erzählt sie ihm von ihren eigenen Vorstellungen einer Ehe. Dass sie nicht der Vernunft wegen (immer noch werden unzählige Ehen in Indien von den Eltern arrangiert), sondern aus Liebe heiraten möchte. Er besucht eine Hochzeit und erlebt für uns ungewohnte Ritual mit.
Im Epilogue geht der Illustrator dann noch auf verschiedene Alltagsbegebenheiten, Riten, Wirtschaft und Religion ein. Diese Ausführungen sind äußerst lesenswert und leicht verständlich. Daher kann man sich das Buch auch mit Kindern anschauen. Noch ein schönes Detail möchte ich erwähnen: Der komplette Text wurde mit der Hand geschrieben, was dem Buch eine zusätzliche, persönliche Note verleiht.
Also, taucht ein in dieses farbenfrohe Lesespektakel. Gelbe, blaue, rote und grüne Striche formen schöne Figuren und Plätze. Und jede Seite hält eine Überraschung parat. Meist ist es eine mit großem Aha- und Lacheffekt. Erfrischend, informativ und äußerst menschlich ist dieses Buch, aus dem man mit leichtem Kopf wieder auftaucht. Und sich fragt: Nanu, war ich gerade in Indien?
Mit dem Buch ist hier Schluss. Doch mit dem Illustrator geht es in zwei Tagen weiter. Dann kommt Sebastian Lörscher bei mir in einem Interview zu Wort.
Sebastian Lörscher: Making Friends in Bangalore. Edition Büchergilde, März 2014, 143 Seiten, 21,95 €. Die Graphic Journey jetzt portofrei bei ocelot.de bestellen.
An dieser Stelle möchte ich euch einen sehr lesenswerten Beitrag über die Büchergilde empfehlen. Nachzulesen ist dieser hier bei der Bücherliebhaberin vom glasperlenspiel13.
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