07 Juli 2022

Stabilität und Utopia. - Die Vielzahl gegenwärtiger Krisen und einige subjektive Voraussetzungen für Visionen.

"Wer Visionen hat, sollte zum Arzt gehen". Dieses Zitat des ehemaligen Bundeskanzlers Helmut Schmidt (1918-2015) wird immer wieder dann gerne hervorgeholt, wenn die ausgetretenen Pfade der Realpolitik verlassen werden. Doch welche Antworten auf die multiplen Krisen, die wir derzeit erleben, kann die Realpolitik geben? Und welche Rolle könnten Visionen dabei spielen, diese zu überwinden? Ein Essay über Stabilität und Utopie.

"Was hat dich bloß so ruiniert?", fragen die "Sterne" in ihrem 1996 erschienenen, gleichnamigen Song auf dem Album "Posen". Manchmal möchte man ob der gegenwärtigen Ereignisse aus dem "dich" ein "uns" machen. Egal, ob es um den Klimawandel, den Krieg in der Ukraine, eine dräuende Wirtschaftskrise oder die Beschneidung elementarer Rechte der Selbstbestimmung von Frauen über ihren eigenen Körper geht (Supreme Court-Entscheidung gegen das "Roe vs. Wade"-Urteil, welches Frauen in den Vereinigten Staaten das grundsätzliche Recht auf eine Abtreibung gab). Es scheint allzu leicht, am gegenwärtigen Zustand der Welt zu verzweifeln. Klug ist es nicht. 

Ohne Zweifel sehen wir uns derzeit mit einer neuen Phase der Instabilität konfrontiert. Der (noch nie selbstverständliche) Zuwachs eines immer mehr an Rechten für immer mehr Menschen ist ins Stocken geraten, die Zukunft liegt nicht mehr vor uns wie eine Verheißung - manche empfinden sie gar als bedrohlich. Ähnlich wie jemand, der sich unbemerkt von hinten anschleicht und uns plötzlich an der Schulter packt, erschrecken wir, fahren zusammen. Dabei blicken wir auf das Gewesene, das uns nun - denn wir bewegen uns ja doch Schritt für Schritt - je weiter wir uns davon entfernen, so vertraut vorkommt: Augenblick: Verweile doch! Du bist so schön! 

Es ist wie in Georgi Gospodinovs Buch "Zeitzuflucht", in dem er von einem Glauben in den Anden berichtet, der annimmt, die Zukunft läge hinter-, das Vergangene vor uns. Er schreibt: "Sie [die Zukunft, TL] kommt überraschend und unvohersehbar hinter deinem Rücken hervor, doch die Vergangenheit hast du immer vor Augen, sie ist schon geschehen" (Gospodinov, 2022, S. 316f.). 

Es ist dieses Spannungsverhältnis von einer uns stabil erscheinenden Vergangenheit und einem brüchigen Zukunftsversprechen, das uns vor der Vielzahl gegenwärtiger Krisen so starr und matt erscheinen lässt. Stabilität und Utopia stehen in einem Missverhältnis. - Eine derzeit häufig gegebene Antwort in der Politik ist, dass es nun pragmatische, "realpolitische" Lösungen brauche. Es wäre falsch, dies einfach abzutun. Denn selbstverständlich bedarf es bei gegenwärtigen Bedrohungen wie einer steigenden Inflation, dem durch Russland vom Zaun gebrochenen Krieg gegen die Ukraine, der grassierenden Waffengewalt in den Vereinigten Staaten oder einer sich verschärfenden globalen Hungerkrise schneller und "zielgerichteter" Lösungen. Aber allein mit der Eindämmung dieser Krisen ist es nicht getan. Denn je mannigfaltiger diese werden und auf je mehr Lebensbereiche sie abstrahlen, desto unwahrscheinlicher wird es, allein mit dem "Instrumentenkasten" (ein häufig gehörtes Wort unserer Zeit) der Realpolitik erfolgreich zu sein. Wir brauchen den Mut, uns umzudrehen, uns der Zukunft zuzuwenden und sie mit Visionen bewohnbar zu machen. 

Drei subjektive Voraussetzungen, die allein der Illustration dienen mögen, wie wir zu diesen Visionen kommen können, möchte ich exemplarisch skizzieren:

(1) Zusammendenken, was zusammengehört

Vor unser aller Augen breitet sich ein Panorama an Problemlagen aus. Diese könnten - alle für sich genommen - bearbeitet werden. Allerdings verkennt das einzelne Abarbeiten von Problemen (ausgelegt auf eine kurzfristige Lösung) seine Grenzen. Je mehr Probleme auftauchen, desto schwieriger wird es, sie auch für sich genommen zu lösen. Die Gründe hierfür liegen in ihrer jeweiligen Komplexität, dem monetären und personellen Aufwand (der sich vergrößert, je mehr Einzelprobleme vorliegen) und teils gegenläufigen gesetzlichen Regelungen, die zur Lösung der in Rede stehenden Themen getroffen werden. Konkurrierende Politikfelder und die manchmal unklare Zuständigkeit der jeweiligen politischen Ebenen (Kommune, Land, Bund) runden das Bild ab. Ein - allzu banal klingender - Lösungsansatz lässt sich unter dem Stichwort "Bündelung" zusammenfassen. Die Sammlung einer Reihe von ähnlich gelagerten Einzelproblemen und ihre gemeinsame Lösung setzt Kapazitäten und monetäre Mittel frei, um weitere Problembündel anzugehen. Zusammendenken, was zusammengehört heißt, mutig sein, Menschen mit unterschiedlichen Expertisen zusammenzubringen und diese gemeinsame Leitlinien für Problemkomplexe erarbeiten zu lassen. Dabei ist es lohnend, auch "fachfremde" Menschen in spezifische Themen einzubinden. Auch, wenn es zunächst seltsam anmutet: Es kann durchaus lohnend sein, einen Dichter und eine Finanzexpertin miteinander ins Gespräch zu bringen. Denn die Kraft der Poesie liegt darin, mit Worten neue Türen zu öffnen. 

(2) Sagen, was ist

Demokratien leben vom Engagement ihrer Bürgerinnen und Bürger. Für eine umfassende Meinungsbildung bedarf es verlässlicher und vertrauenswürdiger Informationen durch Medien und Politikerinnen und Politiker, die in verständlichen Worten erklären, wie und warum sie bestimmte Themen bearbeiten. Darüber hinaus braucht es auch Foren der Verständigung: Regelmäßige Bürgerversammlungen und Konsultationsprozesse mögen hier ein Ansatz sein, um den Austausch zwischen Politik und Gesellschaft zu fördern. - Engagement benötigt zudem Vorbilder. Daher ist es wichtig, nicht nur die komplexen Problemlagen zu beschreiben, mit denen wir uns konfrontiert sehen, sondern auch "Geschichten des Gelingens" zu erzählen. Exemplarisch hierfür dienen Reportagen wie die von Deborah und James Fallows, die für das US-Magazin "The Atlantic" kleine Städte in den USA (fernab der überregionalen Berichterstattung) besucht haben, um sich ein Bild davon zu machen, wie fernab einer paralysierten Politik auf Bundesebene, kleine Ortschaften zu gemeinsamen kommunalen Lösungen finden. Trotz all der Probleme, mit denen sich auch diese Dörfer und Städte konfrontiert sehen, beschreiben die Fallows, wie viele Menschen in ihren "Communities" dafür arbeiten, das Leben vor Ort besser zu machen. Auch für andere Länder wären solche Reisen und Berichte sicherlich lohnend. Die Artikelsammlung lässt sich hier abrufen: https://www.theatlantic.com/our-towns/

(3) Erforschen, was war

Es gab Zeiten, in denen sich die Vorstellung davon, was in Zukunft möglich wäre, geradezu überschlugen. Die Visionen in der Mitte des 20. Jahrhunderts beispielsweise reichten von Kolonien auf dem Mars (eine in unserer Zeit wieder recyclete Vorstellung) bis hin zu Atomantrieben für Autos. Ford hatte dafür schon 1958 ein Konzeptfahrzeug mit dem Namen "Nucleon" vorgestellt. Aber natürlich reicht das utopische Denken viele Jahrhunderte weiter zurück und lässt sich in den Konstruktionen eines Leonardo da Vinci oder der Vorstellung von Maschinen im Zeitalter der Aufklärung (Stichwort: "mechanische Ente" von Jacques de Vaucanson im Jahre 1738) erkennen. 

Auch politische Utopien wurden in den vergangenen Jahrhunderten oder gar Jahrtausenden immer wieder entworfen. Es lohnt sich in diesem Zusammenhang Ernst Blochs "Das Prinzip Hoffnung" zu lesen, in dem er - wenn auch mit deutlich marxistischem Blick - eine Entdeckungsreise durch politische Utopien der vergangenen Jahrhunderte (beispielsweise eines Solon oder Thomas Morus) unternimmt. Gleich in seiner Einleitung schreibt er treffend: "Es kommt darauf an, das Hoffen zu lernen" (Bloch, 1973, S. 1). 

Zu erforschen, was war, indem wir persönliche Streifzüge durch Literatur und Politik, durch Naturwissenschaften und Vergangenheit unternehmen, schult den eigenen Blick auf die Gegenwart. Wir erkennen Muster, wir entdecken neues. Und wir lernen zu hoffen, indem wir wagen zu träumen. 

Abschluss

Diese drei sehr subjektiven Voraussetzungen, um zu neuen Visionen zu kommen, mögen nicht für jede oder jeden hilfreich sein. Sie mögen sogar Widerspruch anregen. Doch gerade das macht sie produktiv. Sie befreien uns aus der Bängnis, die uns alle beim Blick auf die Krisen dieser Welt befallen mag. Utopia heißt so viel wie "Nicht-Ort". Machen wir daraus einen "Noch-Nicht-Ort" und zeigen wir uns offen gegenüber Lösungsansätzen, die wir routinemäßig vielleicht als Tagträumerei abgetan hätten.

 


03 Mai 2022

Essay: Der Mensch und die Digitalisierung. Eine phänomenologische Abschweifung.

Philosophieren heißt das Offensichtliche in Frage stellen, das Unausgesprochene in Worte fassen, das Denken entdecken. Was passiert also, wenn wir uns fragend der "Digitalisierung" nähern, die sich in immenser Geschwindigkeit vollzieht und (beinahe) alle Lebensbereiche beeinflusst? Welchen Einfluss hat sie darauf, was wir unter Menschsein verstehen? Dieser Text versucht eine Annäherung in Form einer Abschweifung.

Der Begründer der "Neuen Phänomenologie", Hermann Schmitz (1928-2021), hat Philosophie einmal als ein "Sichbesinnen des Menschen auf sein Sichfinden in seiner Umgebung" definiert. Philosophie ist danach eine Methode, eine Antwort darauf zu geben, was der Mensch sei. Schmitz hat sich dieser Frage im Anschluss an Edmund Husserl über die "Sachen selbst" als Phänomene genähert. Abschließende Antworten auf die Frage, was der Mensch sei, gibt es nicht. Die Frage stellt sich immer wieder neu. Und vielleicht drängt sie gerade in einer Zeit, die so reich ist an Umwälzungen und Umwertungen, mit neuer Macht in unser Bewusstsein. Viel ist darüber geschrieben worden, wie allumfassend die Digitalisierung unser aller Leben verändere, welche Verheißungen, welche Gefahren damit verbunden seien. Es geht um nicht weniger als die Frage, ob die Digitalisierung unseren Blick darauf, was der Mensch sei, wandelt.

(1) Digitalisierung ist Verlagerung. Nach und nach wandern Tätigkeiten, Gegenstände oder Emotionen, gar Menschen aus dem analogen in den digitalen Raum ab. Raum meint hier schlicht den "Ort, an dem das Digitale sich abspielt". Raum heißt: die Möglichkeit haben, Dinge in Beziehung zueinander zu setzen. Wenn der physisch vorhandene Raum sich auf ein Rechenzentrum verengt, kommt unser Wahrnehmung von Raum eine andere Bedeutung zu. Es stellen sich Fragen wie: Was verbindet uns im digitalen Raum? Wie nehmen wir das Internet als "Ort" wahr? Welche Bedeutung hat unser physischer Standort für unsere Wahrnehmung des Internets als Ort?

(2) Digitalisierung bedeutet Entkörperlichung und Ent-grenzung. Was vorher einen festen, einen physischen Ort hatte, ist nun dem Anschein nach ortlos. Oder schwächer formuliert: örtlich verlagert. Ein Livekonzert in New York City lässt sich - bei stabiler Internetverbindung - ohne Schwierigkeiten und mit kaum vernehmbarer zeitlicher Verzögerung irgendwo in der norddeutschen Tiefebene empfangen (Entkörperlichung). Erforderte die Teilnahme an einem Konzert in "Big Apple" für einen Menschen aus Norddeutschland früher einen Interkontinentalflug, den Übertritt einer Landesgrenze, ein Visum, eine Anpassung an die Zeitverschiebung, lässt sich diese Erfahrung nun anders machen (Ent-grenzung). Doch fragt sich z.B. wie diese Möglichkeit unser Erleben eines solchen Ereignisses verändert und welche neuen Grenzen diese Ent-grenzung setzt.

(3) Digitalisierung heißt Vereinzelung. Ein virtuell empfangener Kuss als "Emoji" ist nicht auf den Lippen oder der Haut spürbar. Auch die Wärme, die das Gesicht des Gegenübers abstrahlt, der Duft eines Parfums, das Flirren und Beben, lassen sich virtuell nicht übertragen. Der virtuelle Kuss bleibt in seiner Bedeutung gleich. Er ist Ausdruck von Zuneigung; und diese ist im Inneren des den Kuss Empfangenden wahrnehmbar. Er oder sie ist jedoch auf sich selbst zurückgeworfen. Zuneigung findet somit in Abwesenheit der Person statt, der die Zuneigung gilt bzw. die diese zeigt. Welche Bedeutung hat ein Gefühl, dass erst über einen Intermediär (in diesem Fall das Emoji) vermittelt werden muss, statt aktiv erlebt zu werden?

(4) Digitalisierung ist die Simulation von Realität, die zugleich Realität formt. Eine im Netz ausgesprochene Drohung von einiger Schwere kann strafrechtliche Konsequenzen haben. Nicht nur droht die Verbannung von einer bestimmten Plattform, sondern auch eine in der analogen Welt eingeleitete Ermittlung, an deren Ende ein Verfahren und eine Verurteilung stehen können. Wie, also, wirkt der digitale Raum zurück in die physische, in die analoge Welt? Und umgekehrt: Welche Konsequenzen haben Handlungen im Analogen im digitalen Raum?

Schon diese vier Miniaturen und die Fragen, die sie abschließen, zeigen, dass die Digitalisierung keinesfalls bloß ein technischer Prozess ist. Sie macht auch nicht schlagartig das Leben aller Menschen "einfacher", wie gerne verkündet wird. Obgleich wir alle uns zunächst freiwillig dazu entschieden haben "ins Netz zu gehen", ist die Wahrnehmung desjenigen, der sich dort tummelt doch, dass aus einem einst grobmaschig geknüpften Gebilde nun ein feinporiges geworden ist, das nur noch weniges "durchlässt". Das heißt zum einen, dass es enorme Kraft kostet, sich aus diesem Netz zu befreien, zum anderen, dass es kaum etwas gibt, dass nicht schon davon "eingeholt" worden wäre.    

Für Immanuel Kant ließ sich das Feld der Philosophie auf vier Fragen bringen, auf welche diese Antworten geben könne. Sie lauten: "Was kann ich wissen?"; "Was soll ich tun?"; "Was darf ich hoffen?" und (wen wundert es): "Was ist der Mensch?" Kant selbst stellte einen unmittelbaren Bezug zwischen den ersten drei Fragen zur letzten her und es erscheint sinnvoll, sie vor dem Hintergrund des digitalen Wandels wieder einmal neu zu stellen. Meine Abschweifungen sind nicht mehr als eine Probebohrung. Sie können im Idealfall Hinweise für mögliche Forschungsfragen geben oder Anstoß für andere sein, sich mit der Frage zu beschäftigen. 

Es ist jedenfalls eine der erschütterndsten und zugleich beglückendsten Erfahrungen desjenigen, der Philosophie treibt, dass Begriffe, die man zumeist nur achtlos oder wenigstens gedankenlos im Munde führt, zu flirren beginnen, unscharf oder uneindeutig werden, wenn man sie befragt. Im Falle der Digitalisierung scheint mir die zentrale Erkenntnis, dass - solange wir unsere physische Existenz nicht aufgeben (können) - eine Wechselbeziehung zwischen dem Analogen und dem Digitalen besteht. Der Mensch macht das Digitale, doch das Digitale macht auch ihn. Die Frage, was der Mensch sei, muss heute zwangsläufig auch über eine Annäherung an das Digitale stattfinden.



05 Februar 2022

Von glücklichen Zufällen. - Eine Begegnung mit Wolfgang Schivelbusch.

Es ist ein kühler Tag Ende Januar als Wolfgang Schivelbusch und ich uns in seiner Berliner Wohnung im Westend treffen. Über mehrere Stunden werden wir sprechen und dabei nicht nur sein Leben als Lesender und Forschender, sondern auch die Zeitläufte streifen. Von der griechischen Mythologie, über die amerikanische Flagge bis hin zu Schivelbuschs Refugium in Brandenburg und den Begriff der Nostalgie als analytische Kategorie – nichts bleibt unberührt. Schivelbusch nennt diese Form des Gesprächs treffend „Spekulieren“. 

Glaubt man dem „Leibniz-Zentrum für Literatur- und Kulturforschung“ (ZfL), an dem Wolfgang Schivelbusch seit 2014 als Senior Fellow tätig ist, zählt dieser seit den 1970er-Jahren zu einem der „international meistgelesenen deutschen Historiker“. Schon vor unserem Treffen in Berlin frage ich mich, ob Historiker wohl die treffende Bezeichnung für ihn ist. Sicher, Schivelbusch hat mit seiner bis heute als Standardwerk geltenden „Geschichte der Eisenbahnreise“ (1977) oder seiner Geschichte der Genussmittel „Das Paradies, der Geschmack und die Vernunft“ (1980) Material- und Kulturgeschichte getrieben. Doch viel eher charakterisiert ihn aus meiner Sicht der etwas altmodische und zugleich so treffende Begriff eines Privatgelehrten. Schivelbusch selbst verwendet diesen Begriff für sich auch – allerdings immer in Anführungszeichen.  

Fern vom akademischen Betrieb hat er sich einem Leser- und Forscherleben hingegeben, welches er in dem exzellenten Gesprächsband „Die andere Seite. Leben und Forschen zwischen New York und Berlin“ (2021) noch einmal Revue passieren lässt. Das Ideal an zwei Orten heimisch zu sein, in der alten und der neuen Welt, die Welt also immer aus der Perspektive eines Menschen zu sehen, der im Aufbruch begriffen ist oder, um in einem Reisebild zu bleiben, auf gepackten Koffern sitzt, hat Schivelbusch zu einem sehr originellen Beobachter gemacht.

In unserem Gespräch scheint diese Beobachtungsgabe zusammen mit seiner Lust am Unkonventionellen immer wieder durch. So schildert er, wie ihm die amerikanische Flagge über viele Jahre als ein Symbol weltweiter Geltung erschienen sei. Für ihn ließen sich auf die „stars and stripes“ alle positiven Bilder, die man von den USA haben konnte, projizieren. Er nennt sie eine „menschenfreundliche Fahne“. Eines Tages – in Livorno oder irgendeinem anderen italienischen Hafen – sieht Schivelbusch eine Yacht unter amerikanischer Beflaggung. Er sagt: „Ich weiß, es gab keinen Anlass. Aber plötzlich hatte ich ein Gefühl, von dem ich denken würde, dass so ein Christdemokrat in den Zeiten des Kalten Krieges die Flagge der Sowjetunion oder der DDR betrachtet hätte. Nämlich als das absolut Fremde, gar Feindliche. Ohne, dass ich sagen könnte, wie diese Wende in mir herangereift ist, hat sich mir dieses Bild stark eingebrannt“. Schivelbusch ist ein Meister starker Bilder und Worte. Vielleicht ist es seine geistige Unabhängigkeit, die manch einem unbequem sein mag, die ihn bis heute als einen (ehemals) klassischen Linken ausweist. Zugleich ist diese Schilderung Ausdruck eines Denkens, dass als mehrdimensional beschrieben werden könnte. Schivelbusch blickt nicht nur auf einen Gegenstand – er hebt ihn auch an oder schaut dahinter. Der Titel seines jüngsten Buches „Die andere Seite“, ist hier also durchaus programmatisch zu verstehen.

Ebenso wichtig für das Verständnis seines Gesamtwerkes ist jedoch der Zufall – noch treffender wäre der englische Begriff der serendipity, des glücklichen Zufalls oder des Findens von etwas, dass man nicht gesucht hat. In unserem Gespräch und seinem jüngsten Buch beschreibt Schivelbusch, wie seine Arbeit im Archiv – das „Hineinschaufeln“ an Unmengen von Material – zunächst nicht zielgerichtet gewesen sei. Eher habe sich aus dem Gelesenen ein Bild gefügt oder eine Frage ergeben, der er dann näher nachgegangen sei. Ein Grund für dieses Vorgehen mag gewesen sein, dass Schivelbusch sich nie als großen Theoretiker verstanden hat. In der Rückschau lässt sich jedoch zumindest eine „Methode“ (und ich verwende hier bewusst Anführungszeichen, da dies reine Spekulation meinerseits ist) erkennen. Man könnte sie Schivelbuschs persönliches e pluribus unum nennen. Aus vielem – oder besser – einer Fülle an Material, leitet er eine Fragestellung ab, die er dann durch die Jahrhunderte verfolgt. Seine Liebe zu kleinen Details, die das „große Ganze“ zu charakterisieren im Stande sind und seine Sprache, die aus der Gegenüberstellung von Gegensätzlichkeiten Verbindungen herzustellen vermag, sprechen dafür.

Für mich hat Wolfgang Schivelbusch eine Sprache gefunden, die es ermöglicht, hinter den Dingen eine weitere Sinnebene wahrzunehmen. Diese geht quasi natürlich von Gegenständen aus – sie ist sogar körperlich spürbar. Doch muss erst jemand kommen, der diese Geschichten zu erzählen vermag. Wolfgang Schivelbusch tut dies seit vielen Jahrzehnten und es ist uns zu wünschen, dass er dies weiterhin tun möge. Denn Schivelbusch lesen heißt Staunen lernen.

30 Juni 2021

Beobachtungen: Joachim Löw - Was bleibt?

Mit der Niederlage der deutschen Fußballnationalmannschaft gegen England am 29. Juni in Wembley (0:2) endet die Ära Joachim Löws als Bundestrainer. Was bleibt von ihm? - Neben der Rekordzahl von 113 Debütanten in seiner Amtszeit (2006-2021), sind dies vor allem eine vielfältige Nationalmannschaft und der Respekt seiner Spieler für ihn. Und natürlich: Fünf Turnierteilnahmen als Cheftrainer, die die Mannschaft mindestens bis ins Halbfinale trugen, der WM-Titel 2014 und der Confed-Cup-Triumph 2017.

Die deutsche Nationalmannschaft ist nach 2018 abermals früh bei einem großen Turnier ausgeschieden. Das Achtelfinale der nachgeholten Europameisterschaft (EURO 2020) ging mit 0:2 gegen England im prestigeträchtigen Wembley-Stadion verloren. Trainer der Nationalmannschaft damals wie heute: Joachim Löw.
Schon seit dem Vorrunden-Aus der Nationalmannschaft bei der WM in Russland gilt Löw seinen Kritikern als angezählt. In bunten Variationen las man davon, dass er „die Mannschaft nicht mehr erreiche“, die falschen Spieler daheim gelassen habe (2018 traf dies Leroy Sané – der bei dieser EM medial übrigens heftig kritisiert wurde) oder zunächst zu spät den Umbruch eingeleitet habe (im Anschluss kritisierte man die „Ausbootung“ von Mats Hummels, Jérome Boateng und Thomas Müller und forderte, Löw müsse die Spieler zurückholen).

Es war klar, dass Löw nach der  Europameisterschaft den Staffelstab weiterreichen würde. Sein Nachfolger ist sein ehemaliger Co-Trainer Hansi Flick, der beim FC Bayern in der Corona-Saison 2019/20 alle Titel eingesammelt hat, die es im Vereinsfußball zu gewinnen gibt. Doch bevor Flick übernimmt, wird Joachim Löws Amtszeit von 82 Millionen Bundestrainerinnen und -trainern beurteilt werden – ebenso wie von der Sportpresse des Landes. Schon heute Morgen (30.06.) schrieb die ZEIT davon, dass nun „bleierne Jahre“ enden würden – der „kicker“ vermisste ein „schlüssiges Konzept“ für die Einwechselspieler gegen England und zitierte ehemalige Nationalspieler wie Michael Ballack, die den Aufritt der Nationalelf kritisierten.

Können wir es uns wirklich so einfach machen?

Sicher: Joachim Löw hat in seiner Amtszeit Fehler gemacht. Wie jeder große Fußballtrainer. Man denke nur an den allseits verehrten Pep Guardiola, der sowohl mit dem FC Bayern als auch (bisher) mit Manchester City  daran scheiterte, die Champions League zu gewinnen.

Vielleicht hätte Löw auf dem Höhepunkt des Erfolges – also nach dem WM-Titel 2014 – seine Karriere als Bundestrainer glanzvoll beenden können. Aber er war sich sicher, dass er den deutschen Fußball noch einmal neu denken und prägen könnte – für ihn stand die Mannschaft nicht am Ende eines langen Weges, sondern befand sich noch mitten auf ihm. In einem notorisch unruhigen Deutschen Fußballverband waren Löw, seine Co-Trainer und auch der viel kritisierte Oliver Bierhoff (Direktor Nationalmannschaften und Akademie) Ruhepole, die der Nationalmannschaft einen Weg wiesen. Lange Zeit war dieser geprägt von großen Erfolgen und denkwürdigen Spielen. Falls jemand einen Beweis dafür sucht, dass Löw auch nach 2014 und der EM 2016 noch einen klaren Plan hatte und eine Mannschaft anzuleiten wusste, schaue er noch einmal den Confed-Cup aus dem Jahr 2017 an. Mit einem Kader, dem viele damalige Stammspieler fehlten und der die Besetzung der heutigen Nationalmannschaft auf einigen Positionen erstaunlich präzise vorzeichnet, gewann Löw das Turnier.

Löw hat eine Ära geprägt und den deutschen Fußball vorangebracht. Immerhin ist er einer von nur vier Weltmeistertrainern. Herberger (1954), Schön (1974), Beckenbauer (1990), Löw (2014) – das ist die Reihe.

Die einzelnen Stationen von Löws Wirken nachzuzeichnen, übersteigt die Länge dieses Gedankenabrisses. Wer einen Eindruck von der Ära Löw gewinnen will, findet mit "Joachim Löw - Die Story: Aus dem Breisgau zum Bundes-Jogi" einen ersten Überblick in der ARD-Mediathek.
Von meiner Seite nur so viel: Unter Löw (ab 2004 als Co-Trainer, ab 2006 dann als Cheftrainer) ist die Nationalmannschaft viel mehr zu einem Abbild unserer bunten Nation geworden, als sie es vorher noch gewesen war. Die Zeit des „Rumpelfußballs“, die noch unter Klinsmanns und Löws Vorgängern dominiert hatte, ist endgültig überwunden - dass sie wiederkommen wird, ist nahezu ausgeschlossen. Und auch das Talentförderungssystem und das Vertrauen in junge Spieler hat vor allem Löw maßgeblich mitgeprägt. In seiner Ära haben 113 Spieler bei der Nationalmannschaft debütiert. Der Letzte war Jamal Musiala vom FC Bayern München, den Löw somit für den DFB „gesichert“ hat. Denn Musiala hätte auch für die englische Nationalmannschaft spielen können. In 198 Spielen unter Löw errang die Nationalmannschaft 124 Siege (40 Unentschieden, 34 Niederlagen). Das entspricht 2,09 Punkten pro Spiel. – Allein diese Zahlen beeindrucken.

Neben dem Platz hat Löw es (fast) immer geschafft, seine Spieler von seinem Weg zu überzeugen – viele haben über die Jahre sehr beeindruckt von ihm gesprochen (auch hier ist Musiala als Letzter zu nennen, der sich – nach meiner Erinnerung – nach einem Gespräch mit Löw für den DFB entschieden hat). Und auch langjährige Nationalspieler wie Philipp Lahm, Per Mertesacker, Bastian Schweinsteiger oder Lukas Podolski sprechen bis heute voller Respekt von Löw.

Von der Fußballnation Deutschland wurde Löw nie geliebt – so stand es heute Morgen aller Orten zu lesen. Man habe ihn lange respektiert, doch das sei nach der WM 2018 auch ein wenig abgeebt. Wir machen es uns aber zu leicht, wenn wir Joachim Löw nur an den letzten beiden Turnieren messen und an ein paar schmerzhaften Niederlagen.

In den besten Momenten spielte Löws Nationalmannschaft begeisternden Hurra-Fußball, war getragen von ausgezeichneter Team-Chemie und einem entspannten und doch akribischen Trainer. In den schwächsten Momenten unter Löw hat die Nationalmannschaft zu wenig Dynamik nach vorne entwickelt und die zweifellos vorhandenen Spielideen nicht auf den Platz bringen können. Doch blickt man zurück auf Löws lange Jahre bei der Nationalmannschaft, überwiegen die positiven, die glanzvollen Momente. Nun davon zu sprechen, dass „bleierne Jahre“ enden würden, greift viel zu kurz. Es ist ungerecht und es verkennt die Leistungen, die Joachim Löw und sein Team in den letzten 15 Jahren vollbracht haben.

 


21 Mai 2021

Essay: Gesellschaftliche Spaltung. - Warum Demokratie Nähe braucht.

Immer wieder lässt sich lesen, dass unsere Gesellschaft sich zunehmend spalte oder schon gespalten sei und es nur noch darum gehen könne die Tiefe der Gräben zwischen einzelnen gesellschaftlichen Gruppen (und innerhalb derselben) zu ermitteln und die entstandenen Klüfte wieder zuzuschütten. Wo fängt man da bloß an? - Ein Debattenbeitrag.

Einer Gesellschaft zu attestieren, dass sie gespalten sei oder zu zerbrechen drohe, ist kein neues Phänomen. Mit großer Zuverlässigkeit wird alle paar Jahre darüber geschrieben oder debattiert, geklagt oder davor gewarnt. 
Viel Lärm um Nichts also? - Nicht ganz. Denn das Warnen vor gesellschaftlicher Spaltung ist immer Ausdruck einer Unwucht innerhalb derselben. Am Anfang mag man sie kaum bemerken. Allenfalls jene, die ein besonders feines Gespür dafür haben, erfühlen eine Veränderung. Je stärker die Unwucht wird, desto manifester wird sie aber: Es ruckelt. Es wird ungemütlich. 
Oftmals geht diesem Phänomen eine Veränderung voraus, die das bisherige "Gleichgewicht" einer Gesellschaft verändert. Uns allen fallen Ereignisse der letzten Jahre ein, die als unabhängige Variablen oder Erklärungsansätze untersucht werden könnten.
Die Corona-Pandemie, die reale Sorge vor irreversiblen - durch den Menschen verursachten - Veränderungen des Klimas, die von bisher marginalisierten Gruppen öffentliche geäußerte Einforderung der ihnen zustehenden Rechte und ihr Wunsch nach Anerkennung oder durch Kriege oder klimatische Veränderungen angetriebene Migrationsbewegungen, sind nur einige dieser Ereignisse. 
 
Um eines gleich vorweg zu nehmen: Die Komplexität jedes einzelnen dieser Ereignisse macht es unmöglich, das eine Phänomen zu identifizieren, dass verantwortlich dafür ist, dass Wissenschaft und Politik, Journalistinnen oder Intellektuelle vor einer (zunehmenden) gesellschaftlichen Spaltung warnen. Und um noch eines ganz klar zu formulieren: Die eine Erklärung gibt es ohnehin nicht. Und es soll hier auch nicht darum gehen, diese Phänomene zu analysieren. Sie sind vielmehr Beispiele dafür, entlang welcher Linien sich Konflikte in den letzten Jahren entzündet haben. 

Für gewöhnlich haben Gesellschaften recht lange Kontinuitätslinien. Das heißt, dass etwa bestimmte  Muster oder für gesellschaftsprägend erachtete Normen oder Praktiken entlang der Generationen weitergegeben werden. Mal wirken die Rituale und Praktiken, Normen oder Werte stärker, mal weniger stark. Und natürlich gibt es Brüche mit Traditionen, Wiederentdeckungen von Ritualen oder die Entwicklung neuer Perspektiven auf die jeweils in Frage stehenden Aspekte, die eine Gesellschaft formen. 

Die Tatsache, dass wir gegenwärtig in so vielen Lebensbereichen miteinander darum ringen, was die "richtige" Haltung, was die "richtigen" Werte oder Überzeugungen seien, ist ein Hinweis darauf, dass wir das Ende einer Kontinuitätslinie erreicht haben könnten. In vielen Bereichen unseres Zusammenlebens stellen wir zurecht unser Handeln auf den Prüfstand. Wir diskutieren Machtfragen, Begriffe, Beurteilungen. 
 
In einer offenen Gesellschaft sollte es selbstverständlich sein, das Miteinander beständig zu reflektieren. Das sollte nicht dazu beitragen, unterschiedliche gesellschaftliche Gruppen auseinanderzutreiben. 

Dass uns dies nicht besonders gut gelingt, sich - im Gegenteil - die Anzahl an blindwütig geführten Twitter-Debatten, hämisch bis strafrechtlich relevanten Kommentaren unter Youtube-Videos, Facebook-Posts oder in Zeitungsforen zu erhöhen scheint, es also regelmäßig zu "Filter-Clashs" (Bernhard Pörksen) zwischen sich diametral gegenüberstehenden Ansichten kommt, macht darauf aufmerksam, dass die Form der Auseinandersetzung ungenügend ist. Eine wesentliche Rolle spielt hierbei in meinen Augen das heute häufig bevorzugte (oder zumindest das meist rezipierte) Medium der Auseinandersetzung: Das, was wir "Social Media" nennen. 

Demokratie lebt von ihrer physischen Komponente. Für Hannah Arendt ist gerade das (politische) Handeln eng mit dem öffentlichen Raum verknüpft. Demokratie lebt von Begegnung und Konfrontation, dem Austausch von Argumenten, dem Gespräch zwischen Menschen in einer Bürgerversammlung, der Gemeinderatssitzung, beim Museumsbesuch oder am Rande der Theatervorstellung. Der Umgang mit Vielfalt und Komplexität, auch der Gemeinsinn lassen sich am besten vor Ort einüben. 

Diese physische Komponente fehlt den digitalen Medien und macht sie damit untauglich, gesellschaftliche Spannungen zu überwinden. Natürlich können sie ein wichtiger Seismograph dafür sein, welche Themen Menschen "in dieser Sekunde" bewegen und welche Themen Menschen auseinandertreiben. Zugleich sind sie aber auch trügerisch, da Menschen hier nicht vor allem aus innerem Antrieb chatten oder posten, sondern auch aufgrund der aufmerksamkeitsökonomischen Logiken der jeweiligen Netzwerke. Es geht den Netzwerkbetreibern nicht so sehr darum, was unter einen Beitrag kommentiert wird, es geht darum das etwas gepostet wird. In dem Strom aus missliebigen Kommentaren, interessanten Artikeln und unterstützenswerten Petitionen nicht unterzugehen, verlangt Menschen andere Kompetenzen ab, als wenn es darum geht, sich aktiv in eine politische Debatte einzubringen.

Demokratie wird dort lebendig, d.h. physisch erlebbar, wo ein Mensch das "Wagnis der Öffentlichkeit" (Karl Jaspers) sucht. Dies geschieht nur dann, wenn es der Bürgerin geboten erscheint. Die Konfrontation oder Debatte sucht, wer aus innerer Überzeugung handelt. Einem inneren Impuls folgt sodann ein externes Feedback.
Digital finden all diese Prozesse laufend und jeweils ausschließlich im Inneren eines einzelnen Menschen statt. Der Wunsch sich zu äußern, der Gedanke wie etwas zu formulieren sei, die Gedanken zu den Reaktionen Einzelner auf den jeweiligen Beitrag. Das sorgt nicht unbedingt dafür, dass ein Mensch die Position eines Anderen besser nachvollziehen kann, da er kein unmittelbares Feedback eines Gegenübers erhält. Natürlich entstehen extern zum Beispiel optische Reize - aber alle anderen Sinne - der Gehörsinn oder der Geruchssinn beispielsweise - werden nicht im gleichen Maße stimuliert wie wenn eine Person ihre Äußerungen in einem zu kleinen und überhitzten Gemeindesaal an einem kalten Winterabend in der Uckermark tätigt. Es öffnet sich der Person ein anderer Erfahrungsraum, der Verständnis für einem entgegenstehende Positionen ermöglicht. 

Darüber hinaus sind "soziale Netzwerke" geschlossene Systeme. Sie sind in einer gewissen Weise exklusiv, da sie zum Beispiel erfordern, dass Menschen sich in ihnen anmelden und damit den AGBs oder Regeln der Netzwerkbetreiber zustimmen oder sie eine eigene Form der Sprache (Codes) erlernen müssen, um sich zu verständigen (z.B. TL;DR - "too long, didn't read" auf Plattformen wie Twitter).
Natürlich hat auch der öffentliche Raum  damit zu kämpfen, dass er nicht überall barrierefrei oder inklusiv ist und somit die gesellschaftliche Teilhabe für Mitglieder unserer Gesellschaft erschwert - im Gegensatz zu digitalen Plattformen jedoch, können wir die Spielregeln einer Gesellschaft unmittelbar mitgestalten. So können wir auch hier gesellschaftliche Spaltung überwinden, indem wir uns auf die "kleinste gemeinsame Wirklichkeit" (Mai Thi Nguyen-Kim) verständigen.  

Demokratie braucht Nähe und physische Präsenz. Bei all den Debattenanstößen und heiteren Kleinigkeiten, die die "sozialen Medien" uns geschenkt haben, können sie das nicht ersetzen. Wollen wir gesellschaftliche Spaltung überwinden, müssen wir als Bürgerinnen und Bürger von unserem Recht Gebrauch machen, uns in politische Debatten über Grundüberzeugungen, Werte, Normen oder auch "nur" die Frage, ob in der Kommune ein neues Schwimmbad entstehen sollte, einzubringen - und zwar vor Ort.

 

Hinweis: Die oben stehenden Überlegungen setzen natürlich voraus, dass wir die Corona-Pandemie überwunden haben.

01 Februar 2021

Gesellschaften lesen lernen. - Eine digitale Begegnung mit Insa Wilke.

Seit Februar 2020 planen Insa Wilke und ich ein Gespräch in Berlin. Dann kommt Corona. Mehrere Versuche, uns persönlich zu treffen scheitern am Lockdown oder an einer vorsorglichen Quarantäne auf meiner Seite. Schlussendlich verlegen wir unser Gespräch ins Digitale, treffen uns im November 2020 zum Interview. - Es wird ein Gespräch über Insa Wilkes Vita, Kultur in Zeiten von Corona, das Lesen und Schreiben - und darüber, was es heißt, eine Intellektuelle zu sein.

Die Frage, was ein Intellektueller sei, lässt sich wohl am besten beantworten, wenn man Intellektuelle nach einer Selbstverortung fragt. Denn folgt man Alex Demirović, so ist die „(…) Bestimmung des Intellektuellen (…) eine Selbstbestimmung“. Als ich Insa Wilke frage, was es für sie heiße, eine Intellektuelle zu sein, antwortet sie treffend: „Eine intellektuelle Person ist eine, die lesen kann. Lesen meine ich hier ganz allgemein: Es geht um das Lesen von Situationen oder der Gesellschaft und das Herstellen von Zusammenhängen“. Insa Wilkes Vita ist geprägt davon, eben jene Zusammenhänge durch verschiedene Medien hindurch herzustellen.

Ausgangspunkt ihrer Faszination für das Lesen ist ihre Mutter, die Insa Wilke und ihrer Schwester abends vorgelesen hat. In ihrem Zuhause gab es viele Bücher, was dazu führte, dass sie diese früh als etwas Wertvolles und das Lesen als etwas Wichtiges verstanden hat.
In ihrer Jugend liest sie viel, zum Beispiel Fantasyromane wie die von Wolfgang und Heike Hohlbein. Die Klassiker – Goethe oder Kleist in etwa – lernt sie erst in ihrem Studium der Germanistik kennen, dass sie aufnimmt, weil ihr ein Psychologie-Studium ausgeredet wird. „Naja, Literatur ist ja wie Psychologie“, sagt sie mir lachend. Sie lernt in Göttingen, Rom und Berlin. Ein studienbegleitendes Volontariat am Literarischen Zentrum in Göttingen ab 2004 bringt sie mit der Gegenwartsliteratur in Berührung; ebenso wie mit dem Schreiben erster Literaturkritiken für die „Frankfurter Rundschau“. Wie kam es dazu? Insa Wilkes Antwort: „Hauke Hückstädt hat damals das Literarische Zentrum geleitet. Einmal hatte er plötzlich keine Zeit, eine mit der FR vereinbarte Rezension zu schreiben und fragte mich, seine Volontärin, ob ich einspringen wolle. Das habe ich dann gemacht und Ina Hartwig, die damals Literaturredakteurin bei der FR war und die mir viel beigebracht hat, war einverstanden es mit einer Anfängerin zu probieren. Daraus hat sich in gewisser Weise ein Schneeballsystem ergeben. Eines ergab das andere – richtig geplant war das nicht“.

2009 wird sie an der Freien Universität Berlin mit einer Arbeit über den Dichter Thomas Brasch promoviert, übernimmt in dieser Zeit auch Lehraufträge an der FU im Fach Neuere Deutsche Literaturwissenschaft. Nach und nach kommen immer neue Medien hinzu, die sie bespielt. Zunächst ist es das Radio. „Mir wurde zu Beginn von meinem Kollegen Michael Kohtes gesagt, dass sich im Radio die Dinge anders vermitteln als über einen Text – nämlich über Atmosphäre“, erklärt Insa Wilke mir. Basis sei für sie allerdings immer das Schreiben geblieben: „Da muss man sich präzise Gedanken darüber machen wie man formuliert und was genau in Texten man analysieren möchte. Ohne das zu tun, bestünde aus meiner Sicht die Gefahr, oberflächlich zu werden“. Dies gilt umso mehr, seit das Fernsehen hinzugekommen ist. Neben Ijoma Mangold (DIE ZEIT) und Denis Scheck ist sie festes Mitglied des „lesenswert“ Quartetts im SWR: „Im Fernsehen spricht man lockerer und ist weniger eng am Text. Wenn man da nicht die Rückbindung hat, zum Beispiel genau die Form zu analysieren, dann fehlt einem da etwas“.

Liest man Insa Wilkes Rezensionen, so fällt auf, dass sich in ihnen häufig ein Leitmotiv findet. Früh im jeweiligen Text wird ein Satz vorangestellt, ein Bild aufgegriffen, ein zentrales Wort eingeführt. Egal, ob es sich um Reiseliteratur, literaturhistorische Betrachtungen oder feministische Lyrik handelt. Wilke schafft es so, ihren Leserinnen und Lesern eine Brille für einen Text zu leihen, der sie Werke anders entdecken lässt als ohne eben diesen geliehenen Blick. Literaturkritik ist also nicht bloß Urteil, sondern auch eine Einladung Autorinnen und Autoren zu entdecken. Es scheint daher treffend, wenn Insa Wilke ihr Verständnis von ihrer Rolle als Moderatorin beschreibt: „Das Moderieren ermöglicht mir einen anderen Zugang zu Autorinnen und Autoren. Da geht es nicht primär um ein Urteil, sondern um die Frage: ‚Was ist das Interessante an einem Werk?‘ oder ‚Worum kreist es?‘“

Eine Grundhaltung ihres Verständnisses von Literaturkritik und dem Literaturbetrieb, schimmert durch diese Antwort hindurch. Auf meine Frage, was sie an ihrem Beruf störe, antwortet sie in Bezug auf den Literaturbetrieb: „Vieles daran ist Show, man selbst läuft Gefahr in Routinen zu geraten oder sich selbst zu wichtig zu nehmen. Das ist manchmal für mich frustrierend, manchmal macht es mir auch Angst, weil ich es wichtig finde, dass man die Sachen ernst nimmt. Literatur ist ja zumeist etwas Ernstes. Denn viele Leute haben da viel Lebenszeit reingesteckt. – Kurz gesagt: Die Rückbindung an Lebenswirklichkeiten ist mir wichtig“. In diesem Zusammenhang kommt sie auch auf Clemens Setz‘ Rede beim Ingeborg-Bachmann-Preis 2019 zu sprechen. Er verglich dort den Literaturbetrieb mit Wrestling, was Insa Wilke nach eigener Aussage sehr eingeleuchtet habe. Die oberste Regel beim Wrestling sei es, so Setz, nicht aus der Rolle zu fallen (Kayfabe). Den versammelten Kandidatinnen und Kandidaten im Wettbewerb gab er mit, die Regeln (und somit wohl auch Rollen) der deutschsprachigen Literatur zu kennen und diese zugleich dringend zu meiden.

Insa Wilke beweist während unseres Gesprächs, dass sie diese Rollen gut kennt – ebenso wie sie die Bedeutung der Kultur im Allgemeinen als Herstellungsleistung von Gemeinschaftlichkeit zu würdigen weiß. In Bezug auf die schwierige Zeit, die Solokünstlerinnen, Veranstalterinnen oder Freiberufler im Kulturbereich durch die Corona-Pandemie durchmachen, sagt sie: „Natürlich ist die Tätigkeit einer Ärztin oder eines Krankenpflegers unmittelbar erst einmal wichtiger. Aber gerade Lesungen oder regionale Literaturfestivals tragen auch bei zur Herstellung oder Aktivierung einer politischen Öffentlichkeit“. Zugleich stört Wilke in der Kulturszene eine gewisse Larmoyanz. Es wäre gut, meint sie, aus einer Haltung der Stärke zu argumentieren und auch zu sehen, welche Möglichkeiten die Kultur – im Gegensatz zu einer 400-Euro-Fußpflegerin oder einer nicht festangestellten Reinigungskraft hat – Öffentlichkeit für sich herzustellen. Es werde viel zu häufig aus einer Position der Schwäche Kritik an Benachteiligungen geübt. Wobei Öffentlichkeit eben manchmal weniger nütze als die Verhandlungen in Hinterzimmern, in denen die Chefs von Banken, Auto- und Stromkonzernen ein und aus gehen. Und sie weist darauf hin, dass es eine ganze Reihe von Behörden gibt, denen möglicherweise das Verständnis dafür fehle, warum Kultur auch und gerade in Krisenzeiten wichtig und auch ein Standortfaktor sei. „Es ist in Krisensituationen wie dieser wahrscheinlich wirklich ein Problem, dass es in der Kulturszene keine Gewerkschaft gibt. Klar, es gibt den Kulturrat, aber nicht wirklich eine organisierte Institution. In den zuständigen politischen Institutionen wiederum arbeiten zu wenig Menschen, die wissen wie eine selbständige Künstlerin lebt, wie ihr Alltag aussieht, was sie verdient und wie. Dann ist man eben allein von der Selbstorganisation abhängig“, stellt Wilke fest.


Die Corona-Krise hat die bunte Kulturszene ihrer Präsenzkomponente beraubt. Lesungen finden, wenn überhaupt, nur digital statt, Literaturfestivals müssen ebenso im Netz ausgestrahlt werden wie Konzerte; die Museen sind geschlossen. Umso wichtiger ist es, dass Intellektuelle wie Insa Wilke unser aller Leben unter geänderten Vorzeichen lesen lernen, ihre Weltsichten entwerfen und diese mit der Öffentlichkeit teilen: „Ich merke im Moment tatsächlich, dass wir in einer Situation sind, die einem Angst machen kann – ebenso wie die gesellschaftliche Entwicklung der letzten Jahre. Egal an welchem politischen Pol man sitzt. Als Gegenpol braucht man ganz dringend Lebensfreude“. Gerade hierbei müsse sie oft an Roger Willemsen denken, dessen Nachlassverwalterin Wilke ist. Willemsen habe exemplarisch bewiesen, wie man Gesellschaft lesen könne, ebenso wie er Lebensfreude verkörpert habe. Zugleich schimmere in Willemsens Werk eine Melancholie hindurch, die vielleicht erst eine jüngere Generation entdecken könne.

Insa Wilke und ich sprechen in diesem Zusammenhang über die nachgelassene Rede „Wer wir waren“, die auf der einen Seite Sorgen vor der Zukunft formuliere, diesen auf der anderen jedoch eine produktive Lesart entgegenstelle. Die Idee, dass man aus der Zukunft auf die Gegenwart schaue, berge ja eben die Hoffnung, dass es eine Zukunft gibt, stellen wir fest.

 

08 Juli 2020

Essay: No Future? - Politische Rhetorik nach der Corona-Pandemie.

Die Corona-Pandemie hat Staaten rund um den Globus getroffen. In einigen Ländern sind die Zahlen der Neuinfektionen mittlerweile rückläufig, in anderen - wie den Vereinigten Staaten von Amerika - werden seit einigen Tagen wieder deutlich steigende Fallzahlen gemeldet. Klar ist: Die Pandemie ist nicht vorüber und zeigt die Fragilität dessen, was wir als "normales" Leben ansehen. Wie wird die Politik reagieren? 

Das Jahr 1977 gilt als Geburtsstunde des Schlagwortes "No Future". Die britische Punk-Band "Sex Pistols" hatte es in ihrem bekannten Song "God Save the Queen" geprägt. Seither gab es reihenweise Interpretationen dieses Slogans und popkulturelle Referenzen. Eine besonders im deutschsprachigen Raum bekannte dürfte noch immer Falcos "Helden von heute" (1982) sein. Er singt darin: "Brot und Spiele san gefragt/ "No future" extrem angesagt". 

Das Schlagwort "No Future" charakterisierte den drastischen, sehr allgemein formulierten Wunsch, dass "System zu zerstören" (so hat es "Sex Pistols"-Sänger Johnny Rotten in seiner Autobiografie formuliert), aber auch die Verzweiflung vieler Menschen angesichts der realen Bedrohung durch einen Atomkrieg im Kontext des Kalten Krieges oder des immer weiter in den Blick tretenden Ausmaßes an Umweltzerstörung. Zur Erinnerung: Der "Club of Rome"-Bericht "Die Grenzen des Wachstums" war 1972 erschienen. Ölteppiche auf den Weltmeeren, kahle und verdorrte Bäume oder Betonwüsten wurden zu Vanitas-Gemälden, die den Menschen ihre eigene Vergänglichkeit bewusst machten. Politisches Handeln wurde von einigen als nicht ausreichend beschrieben - die Zukunft stand aus ihrer Sicht auf dem Spiel.

Der Reflex die Zukunft abzuschreiben und von einer "verlorenen Generation" zu sprechen, zeigt sich auch während der Corona-Pandemie. Auf verschiedenen Ebenen wird die Systemfrage gestellt, werden Strukturen und Institutionen hinterfragt und angezählt. Gleichzeitig zeigen sich verloren geglaubte Reflexe (Stichwort: Solidarität) und Zukunftsoptimismus (viel wird von der "Krise als Chance" oder der sich beschleunigenden Digitalisierung als "Hoffnungsschimmer" gesprochen). Unabhängig davon, wie man jene Reaktionen des Menschen auf die gegenwärtige Krise bewertet, so ist zu konstatieren, dass darin Unmut mit der gegenwärtigen Lage zum Ausdruck kommt. Weder in Bezug auf Fragen der Globalisierung oder Digitalisierung, noch in Bezug auf angemessene Reaktionen auf den Klimawandel oder gesellschaftliche Herausforderungen wie Ungleichheit auf verschiedenen Ebenen, passiert den sich in ihren Forderungen und Interessen mal mehr, mal weniger überschneidenden Akteuren genug. Darüber hinaus offenbart die Corona-Pandemie, wo genau Menschen Probleme am eigenen Leibe erfahren oder Herausforderungen vermuten.
Die Analyse einzelner Probleme würde den Rahmen dieses Essays sprengen - sie ist an anderer Stelle bereits voll im Gange. Jutta Allmendinger hat in der "ZEIT" vor einer "entsetzlichen Retraditionalisierung" von Frauenrollen gewarnt, Heinz Bude im "NDR" - die Pandemie als "weltgeschichtliche Zäsur" bezeichnend - die wiedererstarkende Rolle des Staates betont. Jürgen Habermas, der wichtigste deutsche Philosoph nach Ende des Zweiten Weltkrieges, hat in der "Frankfurter Rundschau" wiederum herausgestellt, dass es noch nie so viel "Wissen über unser Nichtwissen und über den Zwang, unter Unsicherheit handeln und leben zu müssen" gab. Viele andere Felder - Bildungs- und Sozialpolitik, ökonomische Folgen für Einzelpersonen, Familien, Berufsgruppen oder Staaten sowie multilaterale Entwicklungen - werden ebenfalls aus einer "Corona-Perspektive" betrachtet.

Die Chance all dieser Perspektiven besteht darin, dass die Politik sich nun noch einmal neu ausrichten kann. Viele Probleme (seien es soziale Ungleichheit, die noch immer bestehende Verbindung zwischen sozialer Herkunft und Bildungserfolg, der Klimawandel oder die (gesetzliche) Regulierung des Internets) sind bereits seit langer Zeit bekannt. Viele empfanden die Politik in diesen Bereichen in den letzten Jahren als zu zaghaft.
Die Corona-Pandemie gibt der Politik jedoch nun ein einfaches Mittel sich eingehender mit den als drängend empfundenen Problemen zu beschäftigen: Rhetorisch lässt sich sehr einfach behaupten, dass diese Krise gezeigt habe, dass auf dem Politikfeld x und in Bezug auf Gesetz oder Verordnung y noch dringender Handlungsbedarf besteht. Die Politik kann hier also auf vorher weniger bestellten Politikfeldern an (Output)-Legitimität gewinnen, wenn sie rhetorisch plötzlich die Verbindung zwischen einem schon länger bestehenden Problem und der Pandemie herstellt.

Zugegeben: Diese Form der politischen Rhetorik verschweigt den Umstand, dass einige Probleme von den unterschiedlichen Parteien mal mehr, mal weniger vernachlässigt wurden. Sie birgt auch die Gefahr, dass Wählerinnen und Wähler die entsprechenden Parteien an der Urne abstrafen, weil sie dieser Rhetorik nicht auf den Leim gehen. Klar ist jedoch, dass Politik in allen Feldern lange "in Bezug auf Corona" stattfinden wird und es daher sehr wahrscheinlich ist, dass sich diese Form der politischen Rhetorik häufiger zeigen wird. Wenn das am Ende dazu führt, dass demokratische Politikerinnen und Politiker ihr Handeln neu ausrichten und die in vielen Bereichen seit Jahren bekannten Probleme neu bewerten, so ist dies ein Hebel für den notwendigen politischen Wettbewerb in einer Demokratie. Wettbewerb zwischen den demokratischen Parteien bestünde dann nicht im Umstand, ob eine Partei ein bestimmtes Problem als solches erkannt habe, sondern welche Lösung sie dafür vorbrächte.
Denn Demokratie ist auch und vor allem ein Wettstreit der Ideen. Politik ist nie ein in sich geschlossener Kosmos mit Patentlösungen für jede unvorhergesehene Wendung. Die politische Rhetorik hilft dabei, die Verbindung zwischen hinlänglich bekannten Missständen und geänderten Rahmenbedingungen herzustellen.