Heute ist es einmal wieder Zeit, noch kurzes Feedback zu den Romanen zu geben, über die ich bereits im Podcast gesprochen habe, aber da ihn ja nicht jeder von euch hört, gibt es die Titel hier nochmal im Schnelldurchlauf.

Marco Balzano – Ich bleibe hier
Vor gut zwei Jahren machte ich zusammen mit meinem Vater und den Kindern einen Urlaub in Südtirol, beidem uns unser Weg auch am Reschensee vorbei führte. Mein Großer hatte den Kirchturm von Graun im Reiseführer entdeckt und uns dann überredet, auf dem Rückweg nicht über den Brenner, sondern den Reschenpass zu fahren; ein Umweg, der sich für uns alle wirklich gelohnt hat, denn der Weg war landschaftlich extrem schön und der Kirchturm im Reschensee und die Wanderung, die ich mit meinem Sohn durch den See unternahm (ja, es führt tatsächlich ein Weg durch das Wasser) war ein unvergessliches Erlebnis.
In „Ich bleibe hier“ geht es um das Bergdorf Graun, das in den 1950er Jahren einem Staudammprojekt zum Opfer fiel und im See versank.
Am Beispiel von Trina erzählt Marco Balzano die Geschichte von Graun, das zu Zeiten des Faschismus komplett zwischen die Fronten gerät. Die Faschisten unter Mussolini verbieten es den Südtirolern, Deutsch zu sprechen und besetzen wichtige Posten mit regimetreuen Italienern. Als Fremde im eigenen Land kommt vielen das Angebot von Hitler recht, das ihnen ermöglicht, ein neues Leben im Deutschen Reich aufzubauen.
Bleiben oder gehen? – Diese Frage spaltet schon bald nicht nur das ganze Dorf, sondern auch Trinas Familie…
„Ich bleibe hier“ erzählt die Geschichte von Südtirol auf sehr lebendige Weise. Man beginnt zu begreifen, wie die politischen Entscheidungen der damaligen Zeit auch heute noch Einfluss auf diesen Landstrich haben.
Pflichtlektüre für alle, die den Reschensee besuchen wollen!
Nachzuhören in Folge #13 Im ICE nach Chemnitz

Victor Jestin – Hitze
Es sind die heißesten Tage des Jahres, die der 17-jährige Léonard mit seiner Familie auf einem Campingplatz an der französischen Küste verbringt.
Léonard fühlt sich nicht wohl, er findet keinen Anschluss zu den anderen Jugendlichen, er weiß nicht, was er mit sich anfangen soll und kann in den drücken heißen Nächten nicht schlafen.
Als Léonard in der letzten Nacht des Urlaubs einen Strandspaziergang unternimmt, wird er Zeuge eines schrecklichen Ereignisses: Der gleichaltrige Oscar nimmt sich vor Léonards Augen das Leben und der tut nichts, um ihn zu retten.
Erst als Oscar tot ist, erwacht Léonard aus seiner Starre, doch von Schuldgefühlen geplagt, alarmiert er nicht etwa die Erwachsenen, sondern verscharrt den Leichnam im Sand.
Auch am nächsten Tag schafft es Léonard nicht, seinen Eltern zu erzählen, was passiert ist. Orientierungslos und zunehmend dehydriert beginnt Léonard, das fröhliche Treiben auf dem Campingplatz mehr und mehr als Alptraum wahrzunehmen, dem er nicht entkommen kann…
Bei „Hitze“ ist der Name Programm. Man fühlt beim Lesen die drückende Hitze, die sonnenverbrannte Haut und die Sandkörner zwischen den Zehen.
Ein Debütroman, der zwar noch erzählerische Schwächen aufweist, aber so atmosphärisch geschrieben ist, daß ich das nächste Buch von Victor Jestin schon mit Spannung erwarte.
Nachzuhören in Folge #11 Sommer, Sonne, rosa Hasen

David Szalay – Turbulenzen
Eine Sammlung von Kurzgeschichten, die aber alle miteinander verbunden sind, ist „Turbulenzen“ von David Szalay.
Was die Protagonisten der einzelnen Geschichten miteinander verbindet, sind die Flugreisen, die sie alle unternehmen. Dabei fällt schnell auf: Keiner ist nur zum Urlaub machen unterwegs. Oft sind es berufliche oder familiäre Gründe, die der Anlass der Reise sind.
So beginnt dieses Buch beispielsweise mit einer älteren Frau, die ihren Sohn in London besucht, weil er an Prostatakrebs erkrankt ist. Auf dem Heimflug nach Madrid, wo sie lebt, lernt sie Cheikh kennen, der weiter nach Dakar fliegt, wo ihn eine schlimme Überraschung erwartet…
So nehmen uns die Figuren der einzelnen Geschichten jeweils ein Stück der Reise mit, wobei sie immer wieder in metaphorische Turbulenzen geraten, sei es einen Familienstreit, eine Affäre oder eine menschliche Katastrophe.
Wie die Weltkarte mit den eingezeichneten Flugstrecken auf dem Vorsatzpapier schon verrät, umrunden wir in „Turbulenzen“ einmal die gesamte Welt und begegnen dabei Menschen aus den verschiedensten Kulturen und sozialen Schichten und erleben kurze, aber einschneidende Momente in ihrem Leben.
Kurzgeschichtensammlungen mit einem gemeinsamen Thema finde ich immer spannend, denn das kann wirklich gut funktionieren, wie in Frank Berzbachs Die Schönheit der Begegnung oder es kann etwas konstruiert wirken, wie in Tom Hanks Uncommon Type. Bei „Turbulenzen“ gehen die einzelnen Geschichten so gut ineinander über, daß man schon fast eher das Gefühl hat, einen Roman zu lesen, als zwölf einzelne Kurzgeschichten.
Nachzuhören in Folge #16 Lost Places

Lily King – Writers & Lovers
Lily Kings Roman Euphoria hat mich vor ein paar Jahren zwar durch seinen Stil begeistern können, allerdings fand ich, daß die Geschichte um eine Ethnologin auf Forschungsreise im Neuguinea der 1930er Jahre auch ihre Längen hatte.
Mit „Writers & Lovers“ legt Lily King nun einen sehr persönlichen Roman vor.
Casey ist Anfang 30 und hat nach dem Studium alles auf eine Karte gesetzt: sich ganz dem Schreiben zu widmen, um Autorin zu werden.
Doch inzwischen fragt sie sich immer öfter, wie lange sie diesen Traum noch verfolgen kann. Ihr Schuldenberg wächst ins Unermessliche, sie lebt in einem kleinen Schuppen auf dem Grundstück eines Bekannten und übernimmt lange Schichten als Kellnerin, um zumindest halbwegs über die Runden zu kommen.
Nach dem Tod ihrer Mutter und einer schmerzhaften Trennung ist Casey an einem Punkt angelangt, an dem sie kaum mehr schreiben kann, doch sie hält weiter an ihrem Traum fest…
„Writers & Lovers“ ist die perfekte Lektüre für all diejenigen, die gegen alle Widerstände an ihren Träumen festhalten wollen.
Am Ende löst sich alles vielleicht ein wenig zu harmonisch auf, aber nach Caseys langem Kampf gönnt man es ihr gerne.
Nachzuhören in Folge #14 Z wie Zukunftsmusik

Leif Randt – Allegro Pastell
Eigentlich hatte ich schon lange vor, einmal ausführlich über „Allegro Pastell“ zu schreiben, doch inzwischen haben Andi und ich diesen Titel schon so oft im Podcast erwähnt und so ausführlich darüber gesprochen, daß ich das Gefühl habe, jeder der mich halbwegs kennt, weiß inzwischen, daß es das Buch war, daß mich dieses Jahr am meisten begeistern konnte.
Bestimmt hätte ich diesen Titel nie gelesen, hätte Andi ihn nicht unbedingt für den Podcast besprechen wollen; so unscheinbar wirkte das Cover auf mich.
Wir begannen mit der Lektüre in der ersten Woche des Lockdowns im März. Ich war mit meinen beiden Söhnen den ganzen Tag in der Wohnung, wo mir neben Homeschooling und dem Versuch, den Kleinen soweit abzulenken, daß sein großer Bruder seine Hausaufgaben machen konnte, langsam aber sicher die Decke auf den Kopf fiel.
Also beschloss ich, jeden Vormittag eine Runde über die Felder hinterm Haus zu drehen. Wir leben nämlich genau am Rand der Stadt und deshalb war es kein Problem, Spazieren zu gehen, ohne irgendwelchen Leuten zu begegnen.
Zu diesem Zeitpunkt war es noch wahnsinnig kalt. Ich erinnere mich, daß ich zwei Jacken und zwei Schals trug, die ich mir zusätzlich zur Mütze um den Kopf gewickelt hatte, weil der Wind auf den Feldern so eisig und schneidend war.
Von meinem Haus aus führt ein Weg den Hügel hinauf über die Felder. Am höchsten Punkt auf halber Strecke gibt es eine Bank vor einer alten Scheune, die halbwegs windgeschützt ist. Nachdem ich mich durch den Eiswind gekämpft hatte, war es dann auf dieser Bank im Sonnenschein oft so warm, daß ich mich nach und nach aus meinen Schals und Jacken schälte.
Von hier aus hat man einen wunderschönen Ausblick auf München und (bei klarem Wetter) die Alpen, denn der Hügel hinter meinem Haus ist tatsächlich eine der ersten Erhebungen hinter der Münchner Ebene.
Hier saß ich dann jeden Tag eine halbe Stunde, las „Allegro Pastell“ und lachte in meinem kleinen windgeschützten Versteck über Leif Randts hyperreflektierte Protagonisten, die einem mit ihrer überzeichneten selbstgefälligen Art so auf die Nerven gehen, daß man sich einfach nur darüber freut, wie geschickt und absolut überspitzt der Autor die Millenial Generation in diesem Roman aufs Korn nimmt.
Das war zugegeben sehr wenig über das Buch und sehr viel darüber, wo und wie ich es gelesen habe, aber die Umstände waren so außergewöhnlich, daß ich wohl immer an diese verrückten ersten Wochen des Lockdowns denken muss, in denen wir alle nicht wussten, was noch auf uns zukommen würde.
Nachzuhören in Folge #6 Germanys next Lovestory