Auf zu Borkenbrod und Deters

20. Januar 2008 | Von | Kategorie: Literaturveranstaltungen

(wir zitieren aus einem unveröffentlichten Protokoll von Jakov Katz vom 16.01.2008)
[19:05] Ich fahre nach Heidelberg zu Alban Nikolai Herbst (ANH), Deters und Borkenbrod in die Weiss’sche Universitätsbuchhandlung. Der Zug fährt los.

[19:40] Ankunft Karlstor. Beim Fußmarsch von hinten durch die Altstadt zwei Jungs erklärt, wie es zum Eselspfad geht. Sie haben ihn mit Sicherheit nicht gefunden; sie schwankten beide kräftig – jeder hielt eine fast leere Weinflasche in der Hand und eine volle unterm Arm.

[19:50] Bei der Weiss’schen Universitätsbuchhandlung eingetroffen. Ich setze mich in die erste Reihe ganz links und blogge wieder live und analog mit Moleskine Notizbuch, kariert, schwarz, fester Einband und IKEA-Bleistift. Meine Nachbarin zur Rechten [wie sich am nächsten Tag herausstellt die Heidelberger Autorin Hanna Leybrand] zieht aus ihrer Tasche ein Moleskine Notizbuch, kariert, schwarz, weicher Einband. Dies wird ein Abend für Insider so scheint mir. – Ich selbst bin keiner. Die ANDERSWELT ist für mich zu erkundendes Terrain und der Abend vielleicht Mutprobe zur Initiation. Das Publikum etwa 30 Leute, ganz wenige recht jung – das Gros Generation 50plus. Die Athmosphäre in der Weiss’schen familiär. ANH im gepolsterten Lehnsessel an einer Art Schreibtisch vom erhöhten Teil der Buchhandlung – Ex Kathedra; das hat was. Vor sich »THETIS.Anderswelt« – dem Buch sieht man an, dass es schon etliche Lesereisen auf dem Rücken hat – »Buenos Aires.Anderswelt« und das neue Laptop.

[20:15] ANH hat Raucherlaubnis vom Hausherrn, auch das Publikum erteilt schweigend sein Placet. ANH steckt sich eine Zigarre an und setzt Borkenbrod und Deters auf den Weg durch die Stadt. ANH beginnt mit dem Anfangskapitel von »THETIS.Anderswelt«. Es macht einen Unterschied, ob der Autor liest oder gelesen wird. Nicht ich lese für mich, er liest für mich. Im Rhythmus seiner Sprache und nicht meiner. Die Sätze erhalten einen anderen Klang, einen anderen Sinn – obwohl sich kein Wort an ihnen verändert. Stakkato und Synkopen erreichen den Status der Normalität. Das Mischen der Schauplätze und Welten erscheint plausibel und logisch, als könnte es gar nicht anders sein. „Friedrichstraße, fast schon die Grenze Venedigs. Drüben im Westen der Bois de Boulogne, den die Champs-Élysees durchschneiden und der im Nordareal inmitten ausgedehnter Wiesenflächen und lockerer Wälder von Buchen und Ulmen die Königliche Oper birgt. [...] Die Leute wälzen sich aus den entferntesten Vierteln hierher, aus Barcelona Prag ja von München kommen sie, wo nur geistig Behinderte leben, die den Produktionsprozeß störten und ausgegliedert werden mußten. In Straubing werden sie so lange in psychiatrischen Anstalten konzentriert, bis ihre Demenz behoben ist. Die unheilbaren Fälle werden nach Osten abgeschoben. Über den gehen nur Räuberpistolen.“

[21:00] Wechsel zu »Buenos Aires. Anderswelt«. – Meine Nachbarin ist von Moleskine zu Notizbuch DIN-A-5 übergangen und stenographiert phasenweise mit. Ich höre nur noch zu. »Unser Schicksal ist das eines Oktopus, nämlich zu werden, was wir denken, unsere Gedanken zu unserem Körper zu machen und unseren Körper zu Gedanken.« Dieses Zitat von Terence McKenna hat ANH dem 2. Teil der ANDERSWELT vorangestellt.

[21:20 ca.] ANH verlässt die gedruckte Welt und eilt ins Laptop zum Anfang von »ARGO«, dem 3. Teil der Anderswelt, den es wahrscheinlich 2009 in gedruckter Form geben wird. »ARGO ist weniger ironisch, die fragmentarischen Satzfetzen sind impulshafter. Es entsteht noch einmal eine ganz andere Wirkung rauschhafter Bilder, sogar Geräusche und zeigt den Reichtum von ANHs Sprache.« (Schreibt Herr Palomar)

[21:45] Schluß mit Lesen. 90 Minuten ohne Pause und mit Zigarre sind eine reife Leistung. Die Zuschauer fanden es spannend aber anstrengend. ANH erklärt den heutigen Abend für das Gemüt und die Emotionen bestimmt. Morgen in der Vorlesung gehe es bei der Theorie richtig zur Sache, das werde heftig und hart.

[22:30] Aufbruch am Uniplatz. Alle Busse sind gerade weg. Uni-Platz – Hauptbahnhof zu Fuß fünfundzwanzig Minuten. Wäre nicht in den 50gern der Heidelberger Bahnhof verlegt worden, die Hälfte der Zeit hätte gereicht; das macht das Stück Weg vom Menglerbau zum Bahnhof heute noch in Gedanken ungewohnt zäh. Auf den Bus hätte ich dreißig Minuten gewartet und erst einen Zug später nach Mannheim fahren können.

[23:14] Abfahrt der S1 Richtung Homburg (Saar). Schluß mit analogem Geblogge. Bleistift gibt den Geist auf, den falschen Spitzer dabei – produziert nur Kleinholz.

[20.01. 1:51] Nachtrag
Herr Palomar war auch bei der Lesung und hat bei der Büchereule einen Bericht hinterlegt, dem ich mich anschliessen kann.
Wie Alban Nikolai Herbst den Tag der Lesung und den Tag danach erlebte, kann man hier nachlesen.
Arbeitsjournal 16.1.Arbeitsjournal 17.1.

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