Clemens Brentano Preis 2006 setzt Kontrapunkt

17. Mai 2006 | Von | Kategorie: Literaturveranstaltungen

Alle Welt, besonders Heidelberg, feiert das Erscheinen des ersten Bandes von “Des Knaben Wunderhorn” und den Aufbruch der Romatik vor zweihundert Jahren. Die Jury des Brentano Preises setzt mit der Auswahl ihres Preisträgers, Stefan Weidner und seinen “Mohammedanischen Versuchungen” – ob gewollt oder ungewollt – ein inhaltliches Gegengewicht und huldigt dem späten, tief religiösen Brentano.

Der Clemens Brentano Preis der Stadt Heidelberg wird seit 1993 jährlich im Wechsel in den Sparten Erzählung, Essay, Roman und Lyrik an deutschsprachige Autorinnen und Autoren vergeben, die mit ihren Erstlingswerken bereits die Aufmerksamkeit der Kritiker und des Lesepublikums auf sich gelenkt haben. Die Jury setzt sich aus professionellen Literaturkritikerinnen und -kritikern sowie aus Studierenden des Germanistischen Seminars der Universität Heidelberg zusammen. In diesem Jahr ist die Sparte Essay an der Reihe.

Erzählten Essay nennt Weidner seine “Mohammedanische Versuchungen”. Bei seinem Erscheinen 2004 löste das Buch ein vielfältiges Echo aus, unisono wird seine sprachliche Virtuosität gelobt. Die Frankfurter Rundschau meint, es schärfe den Blick dafür, dass jede ernsthafte Begegnung mit dem “morgenländischen” Anderen auch den eigenen Standpunkt zutiefst in Frage stelle. Die TAZ nennt es das “intelligenteste bisher über den ‘Kampf’ der Kulturen’ veröffentlichte Buch”. Die Neue Zürcher Zeitung erkennt einen eigenartigen Genre-Mix aus Reisebericht, Erzählung, historischer Abhandlung, Reportage, Polemik und eben Essay.

Dieser Genre-Mix erlaubt auch eine andere Lesart: Das Buch ist ein kontemplatives, hoch moralisches Traktat. Es nähert sich gefährlich den Grenzen religiöser Erweckungs- und Erbauungsliteratur. Die Begegnungen des Autors mit Menschen aus dem islamischen Kulturkreis, z.B. mit Freunden beim Tee, erinnern passagenweise an jene Schilderungen von Begegnungen eines Carlos Castaneda mit dem Schamanen und Zauberer Don Juan Matus vom Stamm der Yaqui-Indianer.

Weidner eine Art “drogenfreier Schamane des Islam”? Man darf auf die Wirkung des Textes, gelesen vor Publikum, gespannt sein. Überraschen kann nichts mehr, brechen doch mittlerweile Mittwoch für Mittwoch nach den theologischen Seminaren auf dem Petersplatz in Rom – auch Generalaudienzen genannt – die Menschen scharenweise in enthusiastische Be-ne-detto, Be-ne-detto Rufe aus. Dem so Bejubelten fehlt es auch nicht an intellektueller Schärfe und sprachlicher Brillanz. Sein Erstlingswerk liegt lange zurück; als Brentano Preisträger bleibt er uns deshalb wohl erspart.

Verleihung des Clemens Brentano Preises 2006 am Montag, 22. Mai 2006, um 20 Uhr im Spiegelsaal des Prinz Carl, Kornmarkt 1, in Heidelberg. Den Preis übergibt Oberbürgermeisterin Beate Weber. Die Laudatio hält Dr. Helmut Böttiger (Autor und freier Journalist).

Am Dienstag, 23. Mai 2006, um 19.30 Uhr liest Stefan Weidner in der Heidelberger Stadtbücherei aus seinem Band “Mohammedanische Versuchungen”. Der Eintritt ist frei.

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