Ein unterschwelliges Tabu: Das Theaterprojekt Mannheim 1953
26. Januar 2005 | Von WT | Kategorie: Dies u. dasAls am 7. Oktober letzten Jahres “das älteste kommunale Theater in Deutschland und das größte Vier-Sparten-Haus der Welt sein 225-jähriges Bestehen feierte, hätte die sprichwörtliche Mannheimer Marktfrau sogar mit ein paar illustren Namen aufwarten können, die damals Geburtshilfe leisteten: der erste Intendant Wolfgang Heribert von Dalberg, der erste Theaterdichter Friedrich von Schiller und der vergeblich um eine feste Anstellung nachsuchende Wolfgang Amadeus Mozart.” So meinte der Mannheimer Morgen tags zuvor. Weiter heisst es: “Das repräsentative Nationaltheater-Gebäude in B 3 überstand die Jahrhunderte, wurde nur einmal (1853 durch Joseph Mühldorfer) gründlich renoviert und sank in der Nacht vom 5. zum 6. September 1943 in Schutt und Asche. Die nach Zeitzeugen-Berichten charismatische Interimszeit in der legendären “Schauburg” und die Eröffnung des neuen Nationaltheaters am 12. Januar 1957 dürfte manchem Mannheimer Theaterfreund noch in lebhafter Erinnerung sein.” Bei all dem Jubel mit keinen Wort erwähnt: Mies van der Rohe und das Theaterprojekt Mannheim 1953.
Zum Wettbewerb um den Bau des Mannheimer Theaters schickte der ehemalige Bauhausdirektor Ludwig Mies van der Rohe 1953 ein Modell, dass seine Idee von einem architektonischen Universalraum verkörperte und zum Ausgangspunkt für eine in Ost- und Westdeutschland damals heftig geführte Auseinandersetzung um Bauhaus, Glasarchitektur und Funktionalismus wurde. Mies zog am Ende seine Bewerbung zurück, der Bau wurde von Gerhard Weber realisiert.
Ausführlich mit dem Projekt Mies van der Rohes beschäftigt sich der in Heidelberg lebende Archtitekturprofessor und Autor Dr. Thilo Hilpert, Dozent an der FH Wiesbaden. Hilpert, Jahrgang 1947, Stadtplaner und Architekturtheoretiker, gilt als profunder Kenner des Städtebaus der Moderne von Le Corbusier und Bruno Taut bis zu den Tendenzen der Globalisierung. Als Planer und Hochschullehrer war er in Europa, im Nahen Osten wie in den USA tätig.
Als Kurator besorgte er 2002 im Dessauer Kandinsky-Klee-Meisterhaus die Ausstellung “Mies van der Rohe im Nachkriegsdeutschland. Das Theaterprojekt, Mannheim 1953″. Sowohl die Ausstellung wie auch der von Hilpert herausgegebene Katalog, bei Seemann als Buch erschienen, fanden national und international großes Echo. Der Tagesspiegel titelte: “Die Rückkehr, die nicht stattfand Ludwig Mies van der Rohes Mannheimer Theaterprojekt von 1953 – ein Wendepunkt der deutschen Nachkriegsarchitektur?” In der Neue Züricher Zeitung schrieb Jürgen Tietz “Eine von Thilo Hilpert erarbeitete Ausstellung in den Meisterhäusern Kandinsky-Klee in Dessau dokumentiert jetzt die Mannheimer Wettbewerbsgeschichte und bettet sie in die Architekturdiskussion im Nachkriegsdeutschland ein, die durch die Bauhaus-Kritik von Rudolf Schwarz entscheidend mitgeprägt wurde. Die kleine Ausstellung zeigt … als Glanzstück das originale Architekturmodell, das Mies in den USA anfertigen ließ, sowie die Kiste, mit der es nach Deutschland transportiert wurde. Die [..] Erläuterungen in der Ausstellung werden durch einen lesenswerten Katalog ergänzt.” Frank Pommer in der Rheinpfalz meinte unter dem Titel “Bauhaus banal”: “Man hätte Architekturgeschichte im Nachkriegsdeutschland schreiben können. Doch die Mannheimer Stadtväter verließ im Frühjahr 1953 wohl der Mut. Der Mut nämlich, etwas ganz Außergewöhnliches zu schaffen, der Stadt mit dem Neubau des Nationaltheaters ein Signum der Moderne zu verleihen. (…) Recht schnell wird beim Rundgang durch die Ausstellung wie bei der Lektüre des Katalogs deutlich: Es ging um mehr als nur um Mannheim und um den Neubau des Nationaltheaters am Goetheplatz. Es ging um einen Paradigmenwechsel in der deutschen Architektur nach dem zweiten Weltkrieg, ging um Rehabilitation und neuerliche Diffamierung des Bauhauses; ging um das “Wie” des Wiederaufbaus in den zerstörten deutschen Städten. Ein Paradigmenwechsel, der ausblieb.”
An Mannheim sind Ausstellung und Buch spurlos vorüber gegangen. Wie das Archiv verrät, waren weder Ausstellung noch Buch dem Mannheimer Morgen auch nur eine Zeile wert. Es ist weder im Bestand der Stadtbibliothek und auch nicht in der Universitätsbibliothek zu finden. Der Titel ist nach wie vor lieferbar, über jede Buchhandlung innerhalb 24 Stunden zu beziehen. Man könnte das Buch ja auf die Wunschliste der kommenden Weihnachtsbettelaktion “1000 und 1 Buch für die Stadtbibliothek” setzen. Vielleicht klappt es ja bis 2007 zum Stadtjubliäum und 50 Jahre nach Eröffnung des Neubaus des Nationaltheaters. Oder Hilperts Vermutung, die er heute geäussert hat, stimmt: “Tatsächlich muß ich mit dem Thema in Mannheim ein unterschwelliges Tabu berührt haben. Wer läßt sich schon gerne sagen, daß er die Banalisierung einer Idee als Theater hat.”
Bibliographie (kleine Auswahl)
Mies van der Rohe im Nachkriegsdeutschland. Mies in Postwar Germany. Das Theaterprojekt Mannheim 1953. Katalog zur Ausstellung 2002, Meisterhaus Kandinsky-Klee Stadt Dessau.. Dtsch.-Engl.. Text v. Thilo Hilpert 304 S. m. zahlr. Abb. 2001 Seemann ISBN 3-86502-061-5
Hilpert, Thilo / Sablowski, Anke: Town in Mind Urban Vision – 15 Projects. Engl./ Dt. (form + zweck) 2004 ISBN 3-935053-08-8
LeCorbusiers ‘Charta von Athen’. Texte und Dokumente. Hrsg. v. Thilo Hilpert. Reihenhrsg.: Ulrich Conrads u. Peter Neitzke Bauwelt Fundamente Bd.56 Neuausg 1993 Birkhäuser, ISBN 3-7643-6363-0 (N.A. geplant)
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