Evidenz und Rituale

23. Februar 2007 | Von | Kategorie: Literaturveranstaltungen

“Lesen.Hören 1″ das Literaturfestival zum Mannheimer Stadtjubiläum ist eröffnet; die Auftaktveranstaltung mit Roger Willemsen als Schirmherr und Wilhelm Genazino als Autor in der Feuerwache ausverkauft; den Reservierungsschildern an den Stühlen nach weit mehr als ein Drittel der Zuhörer geladene Gäste und Honoratioren.

19:45 Uhr – Der Kulturdezernent begrüßt die Gäste, wünscht ein gutes Gelingen und eröffnet das Fest. Der künstlerische Leiter des Hauses tut es ihm gleich und erklärt Ablauf und Spielregeln des Abends. Roger Willemsen liefert – durchaus nicht akademisch – den gedanklichen Überbau: Was ist und was kann Literatur? – Literatur schafft geistige Freiräume und hilft die Einsamkeit zu Überwinden. Literatur macht aus Gegenständen und Themen Kunst. Im Sauseschritt durcheilt Willemsen die europäische Literatur- und Geistesgeschichte. Ihm gelingt es dabei, in wenigen Halbsätzen einen Bogen vom Kunstbegriff Arnold Schönbergs bis hin zu Franz Grillparzers erster Begenung mit dem Meer zu schlagen. Literatur schafft Evidenz ist eine seiner Kernaussagen.

20:25 Uhr – Wilhelm Genazino liest. Er liest vor heimischem Publikum. 1943 in Mannheim geboren bekennt er: “Ich bin immer wieder gerne in Mannheim, laufe die Straßen entlang, die ich aus meiner Neckarstädter Jugend kenne, betrachte den Alten Messplatz und erinnere mich. Es ist eine nostalgische Stimmung, die ich dabei empfinde, denn mein Verhältnis zu Mannheim ist viel mehr von der Vergangenheit bestimmt als von der Gegenwart.” Ähnlich verhält es sich an diesem Abend mit Genazinos Text “Mittelmäßiges Heimweh”. Ein typischer Genazino Text, wie ihn das Publikum von ihm erwartet und genießt. Die Leute lauschen, lachen heiter amüsiert. Die ausgewählten Passagen stellen neben dem Protagonisten Dieter Rothmund vorallem Frau Grünewald ins Zentrum des Interesses. Frau Grünewald erscheint – vergleichbar mit der “besten Ehefrau aller Zeiten” – als beste Vermieterin aller Zeiten. Genazino erinnert im Ton an einen entschärften Kishon, mit erzählerisch längerem Atem und dezenter gesetzten Pointen. “Stets flanieren seine Helden hart am Abgrund der großen existenziellen Fragen. Doch ihr Blick richtet sich beharrlich zur anderen Seite: auf die Vöglein im Stadtpark, die BHs der Kolleginnen, die vakuumverpackten Salatblätter für das einsame Abendessen. Daraus entstehen die mal urkomischen, mal bitteren Nahaufnahmen aus den Kernzonen der großen Mittelmäßigkeit, die Genazinos Markenzeichen sind.” So beschreibt es Eberhard Falcke in der Zeit. Ulrich Greiner meint jedoch “Die humorvoll nachsichtige Verdopplung jener banalen Alltäglichkeit, die uns mittelmäßig betuchte Bewohner Mitteleuropas umgibt, sie kann doch nicht alles sein. Der hoch entwickelte Sinn fürs Peinliche und Komische, er ist aller Ehren wert, aber doch nicht abendfüllend.” In Mannheim ist es abendfüllend und die Mehrheit der Zuhörer schlägt sich auf Falckes Seite.

21:10 Uhr freundlicher Applaus. Leider beginnt jetzt nicht das, was der Kulturdezernent zu Beginn versprochen hatte: Moderatoren stellen eine Verbindung zwischen Autor und Publikum her und schlagen eine Brücke zum Dialog. Helmut Böttiger holt Genazino aus dem Publikum zurück zum Zwiegespräch auf die Bühne. Der Dialog mit dem Publikum wird zum Dialog vor Publikum. Mit kleinen amüsanten Anekdoten, nicht immer literarischer Natur, wie bei einer Geschichte mit dem Fahrkartenautomaten der Bundesbahn, hat auch hier Genazino die Lacher auf seiner Seite.

21:50 Uhr freundlicher, recht kurzer Applaus beendet den offiziellen Teil der Veranstaltung. Die Länge des Applauses gibt nicht unbedingt die Zustimmung des Publikums wieder; viele Leute haben bereits Genazino Bücher in beiden Händen und stehen in einer langen Schlange hoch zur Bühne. Muss doch das Geburtstagsgeschenk für Tante Frieda noch signiert werden.

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Ein Kommentar
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  1. Oh wie trügerisch ist die Wahrnehmung, wenn der Wunsch (nach Mißerfolg) der Vater des Textes ist:
    Bei Atmospähre, Inhalt und Stimmung ist die Subjektivität Maßstab und selbst bei der Dauer des Applauses zählt die gefühlte Zeit mehr als die gemessene. Dass der Autor aus 26 Sitzplatzreservierungen bei mehr als 500 Besuchern “weit mehr als ein Drittel” errechnet, könnte man unter juristischen oder psychoanalytischen Gesichtspunkten betrachten, es tiefenhermeneutisch deuten oder es mit tiefgrünem Neid erklären. Ich aber hoffe, der Fachmann für Worte ist einfach kein Fachmann für Zahlen.