Mit Odysseus auf der Reise
2. Februar 2005 | Von WT | Kategorie: LiteraturveranstaltungenAn sechs Abenden konnte man mit Manfred Andrae Odysseus auf seiner Reise begleiten. “Literarischer Salon” in der alten Bibliothek der Mannheimer Kunsthalle nannte sich die Lesereihe, die das Nationaltheater mit der Kunsthalle veranstaltete. Kajüte wäre treffender gewesen für die Enge, die sich am ersten Abend einstellte, so viele Passagiere wollten mitreisen. Selbst Ulrich Schwab – sonst Kapitän des Nationaltheaters – schlüpfte in die Rolle des beflissenen Stewards und schleppte Stühle bis wirklich nichts mehr ging und auch der letzte noch mögliche Stehplatz belegt war.
Wer jetzt darauf wartete, mit den bekannten Worten der Voss´schen Übersetzung “Sage mir, Muse, die Taten des vielgewanderten Mannes” würde es losgehen, musste umdenken. Manfred Andrae zog es vor, in der Sprache Homers mit seinen Versen zu beginnen und dann in die Prosa der deutschen Bearbeitung von Wolfgang Schadewaldt zu wechseln, die überzeugend dem inneren Rhythmus der Gedanken Homers folgt. So konsequent, dass manche beim Hören gar nicht merken, dass es sich um Prosa handelt.
Binnen kürzester Zeit waren die Zuhörer von der Sprache gefangen. Um der stickigen Luft und der Enge des Raumes zu entkommen, halten viele konzentriert die Augen geschlossen. Odysseus gerät mit seinem Floß in schwere See – der Erzähler jedoch nie aus dem Takt. Wie ein Ruderer mit kraftvollen Schlägen zerteilt Andrae den Text in Passagen von halbstündiger Länge; diszipliniert von der ersten bis zur letzten Etappe. Auch am sechsten Abend hätte man noch fast die Uhr danach stellen können. Dankbar nehmen es die Zuhörer an, wenn Andrae zum Wasserglas greift, um einen Schluck zu trinken. Ermöglicht er ihnen doch damit, sich aus ihrer Konzentration für einen Moment zu lockern, Luft zu holen und sich zu bewegen. Eine Art Reisegruppe hatte sich herausgebildet, die über die gesamte Distanz an Deck blieb. Einige Passagiere waren von Bord gegangen, so dass am letzten Abend der Raum voll besetzt aber nicht überbelegt war. Aufmerksamkeit und Konzentration der Zuhörer liessen nicht nach, doch waren sie vertrauensvoller geworden; man kannte sich inzwischen. Mit offenen Augen und offenem Mund hängen sie an den Lippen des Erzählers. Ihr Gesichtsausdruck verrät, entrückt in die Phantasie verfolgen sie den Kampf zwischen Odysseus und den Freiern. Der Dreiklang Homer, Schadewaldt, Andrae hat es geschafft, die Zuhörer für Momente der Zeit zu entreissen. – Schade, dass es vorbei ist.
Sich und seinen Zuhörern das gesprochene Wort in einem großen Brocken Text aufzubürden, stand als Aufgabe vor ihm für das Unterfangen “Odyssee” in sechs Abenden, erzählt Andrae. Zu den Grundlagen der europäischen Literatur zurückkehren, Geschwindigkeit und Schnellebigkeit herausnehmen wollte er, zeigen, dass innere Harmonie stärker ist als äußere – dem Zerfall in Teile, Events und Fakten entgegentreten und Zusammenhänge herstellen, Vermittler sein in hermeneutischem Sinn. Sein nächstes Leseprojekt – vielleicht das Nibelungenlied.
Die Lesereihe ist aufgezeichnet worden und soll, wenn es die Qualität erlaubt, auf CD über das Nationaltheater als Life-Mitschnitt, nicht als Hörbuch, zu beziehen sein.
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