Danke, Dickens

admin | Posted 21/03/2007 | Autoren | Keine Kommentare »

Helmut Krausser zählt zu den besten deutschsprachigen Autoren der Gegenwart

Er war ein Junge, und die Welt dieses Romans bestand aus Eis, Gier und Blut. Deshalb hat Charles Dickens’ “Oliver Twist” das Leben von Schriftsteller
Helmut Krausser
verändert.

Was ist wertvoller, die Bücher, die uns mit 14 eine Welt eröffnen, oder jene, die es mit 40 tun? Ich möchte “Oliver Twist” nicht wieder lesen, aber ich weiß, wie viel mir dieser Roman gegeben hat. Und im Gegensatz zu vielen anderen großen Büchern erinnere ich mich an so vieles: Der eitle, gewalttätige Büttel und dessen grausam karikierte Dummheit.

Die ausgezehrten Leiber der Bettler, die in verfallenen alten Häusern vor sich hinvegetieren. Bei schummrigem Licht die Leiche einer verhungerten jungen Frau, die man Stunden zuvor mit einem Stück Brot vielleicht noch hätte retten können. Ihr wahnsinnig gewordener Mann. Oder war es ihre Mutter? Egal. Im Armenhaus, die fiesen, geldgierigen alten Schachteln, die nicht davor zurückschrecken, einer Toten das Letzte buchstäblich vom Hals zu rauben, was ihr geblieben ist, ein Medaillon mit dem Bild ihres Liebsten.

Die Kette der tausend unbarmherzigen Ungerechtigkeiten, die einen gutmütigen, engelsgleich unschuldigen Waisenknaben namens Oliver schließlich in die Hände von Dieben und Mördern führen, in finstere Spelunken und zugige Schlupfwinkel, über denen stets der Schatten des Galgens liegt. Die sadistische Konsequenz, die Olivers Bahn in die Aussichtslosigkeit lenkt – und hinter dem sichtbaren Bösen, als wäre es damit nicht genug, lauert noch etwas anderes, viel Böseres, dessen Beweggründe wir für lange Zeit nicht kennen, das indes alles unternimmt, um Oliver für immer kaltzustellen.

Ich erinnere mich an Oliver, der sich auflehnt, flieht, auf den Landstraßen vagabundiert. Oliver als Lehrling des Sargschreiners. Olivers kurze Karriere als Leichenbegleiter. Intrigen, die gegen ihn geschmiedet werden. Verleumdungen. Gewalt. Überall Gewalt und Boshaftigkeit, niederste Instinkte, ein Pandämonium an Niedertracht und Gemeinheit in einer Welt aus Eis, Gier und Blut. Oliver, der Einbrecher wider Willen, durch einen Schuss beinahe tödlich verletzt. Und ich erinnere mich an die atemberaubende Treibjagd auf Bill Sikes – und ein wenig erinnere ich mich an Sikes’ Geliebte, die unergründliche Nancy, die für Oliver ihr Leben opfert, sich von Bill aber nicht loslösen kann.


Wir werden, was wir lesen

Wenn ich heute drüber nachdenke, ist das die sehr moderne, knappe, fast erklärungslose Schilderung einer sexuellen Obsession: erotisch und brutal, ohne jedes derbe Wort zu gebrauchen – ein bitter notwendiges Kunststück der prüden viktorianischen Ära. Ich erinnere mich an die facettenreiche Schilderung der kleinen Ganoven, des seltsamen, vom Autor fast respektvoll referierten Ehrenkodex der Diebe, deren Charaktere durchaus nicht alle gleichermaßen verwerflich gezeichnet sind. Dickens hatte sichtlich Freude daran, diese Unterwelt präzise zu beschreiben, ohne Klischees und Talmi.

Und dann – das letzte Drittel des Romans – eine geradezu paradiesisch liebevolle Gegenwelt, eine Erlösungsgeschichte an der Grenze zum Vollkitsch. Aber auch das hat mich bewegt, hat mich lange Zeit an die immer mögliche günstige Wendung glauben lassen. Kein unnützer Glaube. Und da ist ja noch die gespenstische, luftabklemmende Szene, in der Fagin, der alte Bandenchef, in der Nacht vor seiner Hinrichtung in der Zelle sitzt und wirres Zeug stammelt. Der Autor gönnt sich weder ein Wort des Triumphes noch des Mitleids.

Gerade dadurch gewinnt die Szene eine Intensität, die, bei aller Antipathie zum Verbrecher, doch aufzeigt, was es bedeutet, ein fremdes Leben, selbst mit Zustimmung des Gesetzes, zu beenden. Je länger ich mich in diesen Roman zurückversetze, desto klarer wird mir, dass er mich mehr als jedes andere Buch beeinflusst, ethische und ästhetische Schienen in mir verlegt hat.

Wir werden, was wir lesen. Danke, Charles Dickens.


Das aktuelle Buch von Helmut Krausser:


Kartongeschichten, Mare, 120 Seiten

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