Grandioses Revier

admin | Posted 21/03/2007 | Krimis | Keine Kommentare »

Jürgen Lodemann

Er ist der Erfinder des Ruhr-Krimis: Jürgen Lodemann. Exklusiv für Seite 4 sichtet er die regionale Krimiszene – und erinnert an Ihren schwierigen Beginn.

Es war tatsächlich ein Kreuz damals, im Januar 1972, als ich in Baden-Baden mit dem “Literaturmagazin” und der “Bestenliste” begann. Da sollte ich als TV-Moderator neue “gute” Bücher vorstellen – und was lieferte der Literaturbetrieb? 1968 war vorbei, die Hochliteratur schwelgte in “neuer Innerlichkeit”, Handke, Verena Stefan oder Botho Strauss zelebrierten “Stunden der wahren Empfindung”, und ich armer Realist aus Essen sollte einfühlsam emporsteigen ins rein Geistige und feinsinnig Ungefähre. Dafür holte ich mir ein Wort aus der Metzgersprache: “Innereien”.

Täglich 30 und mehr Bücher kamen in mein Büro, und nichts las ich darin über das, was mich interessierte: handfester Alltag, Unrecht, Arbeiter, Volksmaul, Ruhrgebiet. Europas größte Arbeitslandschaft kam nicht vor. Und wo doch – wie bei von der Grün, Somplatzki oder Wallraff -, da war den Großkritikern klar, dass dies keine Literatur sei, sondern “Dreck!”, so hörte ich einen der noch heute Maßgebenden über Somplatzkis “Muskelschrott” reden.

Den Bildungsbürgern im gepflegten Süddeutschland hätte ich zu gern einiges vermittelt aus dem sachenreichen Reich der Ruhrleute und ihrer vital rumpelnden Kumpelsprache, gebacken im Krach der Montanarbeit, Wüstes von Proleten für Ästheten. Da blieb nichts übrig, Selbsthilfe musste her. 1975 startete ich die kodderschnauzig wildzarte “Drögemöller”, und im Goldnest Baden- Baden entsetzten sie sich über mich “Schreibtischwüstling” (Der Stern), über “Übungen auf der Lustmatte”, wie konnte ich nur.

Wenn ein Kritiker plötzlich selbst Literatur produzierte, dann war Experimentelles zu erwarten, Lyrik, aber doch kein “süffiger Erotikjargon” (Playboy). Als mich auch meine Heimatzeitung rügte, tat ich einen zweiten Klimmzug mit “Ahnsberch” in Bochums Theater und ließ dort 1980 ein Jahr lang das vorwegspielen, was heute für 2010 im Ernst erstrebt wird (auch von der Heimatzeitung): Stolz aufs Eigene, aufs Ruhrprofil, nicht Scham über die Herkunft aus Dreck, Dunst und Emscherschlamm, sondern Genuss und Lust, auch sprachliche Lust an der Einzigartigkeit der sich ständig erneuernden Fünf-Millionen-Zwölf-Großstädte-Stadt Ruhr.[pagebreak]


NUR KRIMINALDICHTUNG IST DICHTUNG

So fing das an, vernarrt ins Regionale. Inzwischen ist die Zahl ortsgebundener Romane und Krimis auch im Revier unübersehbar, meldet der Dortmunder Grafit-Verlag Millionenauflagen. Doch immer mal wieder nagen Zweifel, ob Krimis denn ernstlich Literatur seien. Rundheraus: Nur Kriminaldichtung ist Dichtung. Denn die Welt ist nun mal kriminell, potenziell wie de facto. Das beginnt mit der Antike, Aischylos oder Sophokles vermitteln das ebenso wie Shakespeare, Schiller oder Brecht.

Die erörtern handfest Ermordungen, Intrigen, Verbrechen, Neid, Größenwahn. Und große Prosa steht auf Ortsvorgaben. “Ulysses” ohne Dublin? “Blechtrommel” ohne Danzig? Nicht anders schon das Nibelungenlied. Ich machte mir die lustvolle Mühe und rekonstruierte unser Literaturungeheuer auf 900 Seiten nach den je ältesten Quellen, und nicht nur, weil auch dies ein Krimi ist, den jeder authentisch kennen sollte, sondern weil das obendrein ein ausgemachter Regio-Krimi ist: Wo denn wohl sollte einer, der in der Völkerwanderungszeit von Xanten auszog, um die Energie- und Feuerbeherrschung zu lernen, wo sollte der seine Schmiedekunst anders gelernt haben als dort, wo uns heute die Archäologie entsprechende Spuren zeigt? Warum denn wohl hat Steele den Stahl-Namen oder heißt die Isenburg “Eisenburg” – damals lag im Ruhrtal der silbern glänzende Anthrazit offen zu Tage, beste Kohle mit stärkstem Heizwert.


Europas wunderbares Ur-Epos wird nach gründlicher Recherche zum realistischen und ortsgenauen Drama. Es startet auf dem heutigen Stadtgebiet des vorzeitlichen Essen (wörtlich “Eschen-Ort”) oder Bochum (“Buchenheim”) und ist – wie jeder gelungene Krimi – so spannend wie hochpolitisch, mit Mord, Heimtücke und Lüge – und zeitlos aktuell. Denn in der Nibelungenzeit zerbrach mit dem römischen Imperium eine Weltmacht, gleichzeitig entstand eine neue, eine geistliche, die Rom-Kirche.

Und weil um 500 die Schienen gelegt wurden, auf denen wir noch heute unterwegs sind, lohnte es sich, den Menschheitskrimi um Siegfried zu erneuern nach den ältesten Dokumenten, nun auch mit Priestern. Im alten Nibelungenlied fehlt Geistlichkeit – unmöglich in einer Mittelaltergeschichte. Die Klosterschreiber hatten so ihre Gründe, bei den Massakern von Geistlichen nichts zu erzählen… Krimiarbeit ist Detektiv-, ist Entdeckungsmühe, ist Enthüllungslust.

Nicht anders auf dem Bildschir: Ganz neu sehen wir Duisburg seit Götz George. Und nach dem anspruchsvollen “Lutter”-Start ist zu hoffen, dass nun auch Joachim Król und sein Team Ähnliches leisten für das Revier und seine glänzende neue Käuflichkeit, in der jeder jeden potenziell besticht oder auch mal ermordet. Eine gute Kriminalgeschichte klärt Missverhältnisse, durchleuchtet Labyrinthe, und je genauer da gearbeitet wird, desto weniger kommt das an dem vorbei, was als Aufklärung gilt und bei Großkritikern immer noch als “unliterarisch”.

Wo aber Präzision waltet, sind Aufklärung und Politik nicht aufgesetzt und angehängt, sondern ergeben sich aus den Fakten, aus den Genauigkeitsgraden von Buch und Regie und bilden am Ende unverwechselbare Konturen.


Die Bücher zum Thema
:


Jürgen Lodemann, NORA und die Gewalt- und Liebessachen, Assoverlag, 300 Seiten


Frank Schmitter, Späte Ruhestörung, Piper, 288 Seiten


Gabriella Wollenhaupt, Grappas Treibjagd, Grafit, 248 Seiten


Gabriella Wollenhaupt, Grappa und die Nakenbeisser, Grafit, 224 Seiten


Leo P. Ard & Reinhard Junge, Meine Niere, deine Niere, Grafit, 258 Seiten


Conny Lens, Steeler Strasse, Drecksgeschäfte, kbv krimi, 240 Seiten

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