Schluss mit dem Heimatschutz!

admin | Posted 06/05/2007 | Autoren | Keine Kommentare »


Roger Federer kann es, die Crew von Alinghi auch – die Schweizer Literatur aber bringt keine Spitzenleistungen mehr hervor, meint die Kritikerin Dr. Pia Reinacher. Ihre Polemik gegen die Harmlosigkeit eröffnet ein Streitgespräch mit den Verlegern Egon Ammann und Dirk Vaihinger – Exklusiv in "Seite 4".

Sie waren literarisch hochbegabt – und sie wollten so schnell wie möglich weg. Gottfried Keller, Charles Ferdinand Ramuz, Robert Walser, Ludwig Hohl, Max Frisch, Paul Nizon – die Liste renommierter Schweizer Schriftsteller ist lang, welche die Schweiz als Gefängnis empfanden und sich mit einem kühnen Sprung über die Grenze absetzten.

Wollten sie dem helvetischen Zwang zur Harmlosigkeit entkommen? Erstickten sie in einem Land, in dem der förderalistische Kompromiss das Denken bestimmt und das
Mittelmass im System angelegt ist? Sahen sie keine Entwicklungsmöglichkeit auf einem Terrain, auf dem Extreme suspekt, herausragende Persönlichkeiten verdächtig und Kritik grundsätzlich als Nestbeschmutzung qualifiziert wird? Bot ihnen ein Umfeld, das jede Form von Exzellenz wie der Teufel das Weihwasser fürchtet, zu wenig Spielraum?
Es ist kein Zufall, dass es ausgerechnet diese Autoren später zu dauerhafter Reputation in der Schweiz und zur nachhaltigen Beachtung jenseits der Landesgrenzen brachten.

Tatsächlich waren es die rebellischsten, scharfsinnigsten, radikalsten, wildesten und vitalsten Talente, welche die nationalen Fesseln sprengten. Die Selbstfindung in der Fremde verlief dann allerdings für keinen von ihnen ohne Opfer. Die Auseinandersetzung mit der schweizerischen Identität und die Einsamkeit im Ausland verlangten ihren Tribut. So unterschiedlich diese Schriftsteller in ihrem literarischen Habitus und ihrem Selbstverständnis auch waren, sie zeigen alle dasselbe Symptomprofil.

Gottfried Keller und Robert Walser warfen sich freiwillig der Weltstadt Berlin in den Schlund, um in der fremden Welt auf sich selbst zurückgeworfen zu werden und durch diesen komplexen Umschichtungsprozess auf neue Stoffe zu stossen. Schriftsteller werden hiess das Programm, die Trennung vom “Mutter”-Land war Voraussetzung für den Selbstversuch mit ungewissem Ausgang.

Robert Walser brachte es einmal folgendermassen auf den Punkt: “Ich bilde mir ein, dass Berlin die Stadt sei, die mich entweder stürzen und verderben oder wachsen und gedeihen sehen soll. Eine Stadt, wo der raue, böse Lebenskampf regiert, habe ich nötig. Eine solche Stadt wird mir zum Bewusstsein bringen, dass ich vielleicht nicht gänzlich ohne gute Eigenschaften bin. In Berlin werde ich in kürzerer oder längerer Zeit zu meinem wahrhaftigen Vergnügen erfahren, was die Welt von mir will und was meinerseits ich selbst von ihr zu wollen habe.”

Ramuz wiederum machte sich bei der erstbesten Gelegenheit nach Paris davon, um in der provinziellen Finsternis der Heimat nicht zu ersticken. Immer wieder revoltierte er gegen die kulturfeindliche Atmosphäre der Schweiz. Als er 1937 in der Revue “Esprit” den historisch gewordenen Satz “La Suisse n’existe pas” prägte und die Absenz einer eigenständigen schweizerischen Kunst und Literatur beklagte, flogen die Fetzen.

Man wollte ihn harmlos, und man wollte ihn klein und angepasst. Paul Nizon ging denselben Weg, hinterliess auf seiner Flucht aus der Schweiz aber den provozierenden Aufsatz “Diskurs in der Enge”, an dem sich die zurückgebliebenen Schweizer Intellektuellen während mindestens dreissig Jahren zornig die Zähne ausbissen.

Zu forsch war die These von der “wahrhaft sonderfall-mässigen Enge” im Kleinstaat, die Atemnot erzeuge, zu keck der Satz vom Stoffmangel in der überschaubaren Welt, zu empörend das Verdikt, dass Flucht die einzige Lösung sei.[pagebreak]


HASSLIEBE ZUR HEIMAT

Max Frischs Hassliebe zur Schweiz schliesslich ist mehrfach verbrieft. Misstrauen, Ausgrenzung und Geringschätzung schlugen ihm in der Heimat selbst dann noch entgegen, als er sich mit dem Roman “Stiller” (1954) schon in die Weltliteratur eingeschrieben und mit dem “Homo Faber” (1957) einen Publikumserfolg errungen hatte.

Im Briefwechsel “Max Frisch/Uwe Johnson 1964 – 1983″ verschaffte er sich Luft mit einem Urteil über die Schweiz, das an Deutlichkeit nichts zu wünschen lässt: “Legt einer Wert darauf, als Schweizer empfunden zu werden, so kann er nicht bescheiden genug sein. Als Person. Ihre Angst, dass ihnen der eine oder andere über den Kopf wächst, wählt ja auch das Parlament, das im gleichen Sinne wiederum den Bundesrat wählt.

Ob Lehrer oder Landesplaner oder Bundesrat, die Hauptsache bleibt, dass er mittelmässig ist, und ist er nicht Mittelmass, so hat er sich wenigstens wie Mittelmass zu verhalten. Das halten sie für demokratisch. Wo man vorgibt, dass alle das gleiche Recht haben, soll ja auch keiner mehr Glanz haben.”

In der Erfahrung der Väter-Generation liegt schon alles angelegt, was auch für die junge Schweizer Literatur gilt: Die Reflexion der eigenen Identität setzte schöpferische Kräfte frei. In der Hassliebe zur Heimat, in der krisenhaften Auseinandersetzung mit der guten und der bösen Schweiz flogen diesen Autoren die besten Ideen zu.

Zudem wirkte der Blick über den helvetischen Suppentellerrand inspirierend, die Konfrontation mit anderen Lebens- und Denkweisen funktionierte als Katalysator, der den eigenen Bildern zum Durchbruch verhalf. Autoren wie Robert Walser und Gottfried Keller, Max Frisch, Friedrich Dürrenmatt und Hermann Burger, Urs Widmer, Adolf Muschg, Thomas Hürlimann oder Peter Bichsel wussten schon immer, dass auf diesem Feld das fruchtbare Potential liegt.

Sie suchten es im eigenen Innern, indem sie sich unberechenbaren Szenarien sowie starken emotionalen Erfahrungen aussetzen. Und sie hatten damit Erfolg. Auch international.Das ist heute nicht mehr so. Die Schweizer Helden der Väter-Generation sind älter und müder geworden. Das Spielfeld haben die Kinder der Wellness-Generation, der Medien-, Fun- und Informationsgesellschaft bezogen, die nach ihren eigenen Regeln schreiben.

Ihnen wurde Vieles leicht gemacht. Aber sind sie auch erfolgreich? Als im Jahre 2005 mit dem Deutschen Buchpreis die höchstrangige deutsche Literaturauszeichnung geschaffen wurde – in Bezug auf ihre Reputation auf der Ebene des Booker-Prize und des Prix Goncourt angesiedelt -, schnitten die Schweizer schlecht ab. Keiner hatte auch nur den Sprung auf die Longlist für den besten deutschsprachigen Roman geschafft.

Ein Jahr später brachten es Thomas Hürlimann, Peter Stamm und Matthias Zschokke bis auf die Longlist – auch das nur unter Biegen und Brechen. Dann war die Reise zu Ende, bis zur Shortlist drang kein Schweizer vor. Das zeigt ganz deutlich: Die Schweizer Literatur kann international nicht mehr mithalten.

Während im Schweizer Sport Stars wie Roger Federer oder die Alinghi-Segler Spitzenleistungen bringen, bewegt sich die Literatur in erstaunlicher Talfahrt. Ein Blick auf die wichtigsten internationalen Nachwuchswettbewerbe bestätigt das gleiche Bild. Fakt ist, dass die Schweizer in den letzten zehn Jahren kaum Lorbeeren errangen.


An den Klagenfurter “Tagen der deutschsprachigen Literatur” gewannen letztes Mal Zoë Jenny (1997), Christian Uetz (1999) und Raphael Urweider (2002) das 3sat-Stipendium. Eine bescheidene Ausbeute im Vergleich zu früheren Jahren, in denen Urs Jaeggi, Jürg Amann, Erica Pedretti oder Hermann Burger den Ingeborg- Bachmann-Preis errangen und Autoren wie Gertrud Leutenegger, Helen Meier und Walter Vogt weitere Stipendien heimbrachten.[pagebreak]


VERDRÄNGTE WAHRHEITEN

Auch in den relevanten deutschsprachigen Nachwuchswettbewerben spielte die Schweiz in den letzten zehn Jahren kaum mehr eine Rolle. Der “Aspektepreis” des ZDF, die wichtigste Auszeichnung für deutschsprachige Debüts, wurde in der gleichen Zeitperiode einer einzigen Schweizerin zugesprochen, nämlich Zoë Jenny. Kein anderes Bild beim Berliner “Open Mike” und beim “Rauriser Literaturpreis”.

In Berlin konnte sich einzig Michael Stauffer (1999) durchsetzen, den Rauriser Literaturpreis holten sich nur gerade Peter Stamm (1999) und Katharina Faber (2003). Das müsste nachdenklich stimmen. In der Schweiz aber werden solch unangenehme Wahrheiten reflexartig tabuisiert, verdrängt oder verschoben.

Monokausale Erklärungen gibt es nicht, die Ursache für die bedenkliche Stagnation liegt im Zusammenwirken unheilvoller Faktoren, die sich gegenseitig verstärken. Die Verweigerung einer offenen Debatte in den Feuilletons, den öffentlichen (Subventions-)Gremien und den kulturellen Institutionen gehört vor allem dazu.

Wenn die Frage nach dem Erfolg überhaupt aufs Tapet kommt, werden sofort Entlastungsgründe gesucht, die den angenehmen Nebeneffekt haben, dass man sich der hausgemachten Wirklichkeit nicht zu stellen braucht. Dabei gibt es heute kaum einen Bereich des öffentlichen Lebens, in dem Erfolgskontrolle nicht als selbstverständliches Steuerungsinstrument dazugehörte. Wie sehen die Entlastungsargumente aus? Erstens: Die deutschen Juroren seien voreingenommen.

Die
Schweizer hätten zu wenig Fürsprecher. Ein Vorwurf, den jeder, der sich in deutschen Gremien bewegt, auf der Stelle verwerfen muss. Im Gegenteil: Deutsche Juroren sind Schweizer Autoren mit einer Sympathie und Aufmerksamkeit zugeneigt, die geradezu verblüfft. Nur gibt es jenseits der Grenzen keinen Heimatschutz. Auch Schweizer Autoren müssen sich dem vergleichenden Wettbewerb und der Qualitätsprüfung stellen. Zweitens: Wettbewerbe und Preisveranstaltungen hätten gar keine Aussagekraft, alles sei bloss zufällig.

Davon kann keine Rede sein. Es gibt eine klare Korrelation zwischen dem Erfolg in literarischen Turnieren einerseits und öffentlicher Wahrnehmung, Publikumserfolg und Verkaufszahlen andererseits. Selbstverständlich produziert jeder Wettbewerb auch Fehlurteile, Zufallstreffer oder Eintagsfliegen. In den meisten Fällen setzen sich beim Publikum aber jene Literaten durch, die auch im Spiel um Preise erfolgreich sind. Drittens: Es reiche, wenn ein Schweizer Autor im eigenen Land sein Publikum finde. Irrtum.

Wollen Schweizer ihre Literatur künftig nicht wie Schweizer Milch subventionieren, sind sie dringend auf internationale Beachtung angewiesen. Die ökonomischen Bedingungen des Literaturbetriebs haben sich in den letzten zehn Jahren drastisch verändert. Reichte es früher, wenn ein Verlag im eigenen Land 1.000 Exemplare seines Buches absetzen konnte, so rechnet sich heute der kleine Binnenmarkt nicht mehr.

Egon Ammann, einer der erfolgreichsten Schweizer Verleger, sagte es anlässlich der deutschen Buchpremiere von Thomas Hürlimanns neuem Roman “Vierzig Rosen” am Literaturfest “Poetische Quellen” in Bad Oeynhausen im letzten Sommer deutsch und deutlich: Überspringt ein Buch nicht die Schweizer Grenze und kann nicht auch in Deutschland verkauft werden, ist der Verleger schon bald in den tiefroten Zahlen.[pagebreak]


DAS VERSCHWIEGENE KARTELL

Eine Binsenwahrheit. Schon Friedrich Dürrenmatt wusste, dass Schweizer vor allem auch deutsche Leser erreichen müssen, wollen sie sich langfristig durchsetzen. Wer in Deutschland aber heute nach bekannten Schweizer Autoren fragt, bekommt höchstens noch Namen wie Urs Widmer, Adolf Muschg, Markus Werner, Peter Stamm, Thomas Hürlimann oder Martin Suter zur Antwort.

Selbstzufriedenes Schmoren im eigenen Saft reicht aber auch für die Verlage nicht mehr. Im globalisierten Wettbewerb gibt es kaum einen Schweizer Literaturverlag, der nicht bereits heute auf Kooperation, Fusion oder lockere Zusammenarbeit mit einem deutschen Verlag angewiesen wäre. Die Ausnahme, nämlich der Diogenes-Verlag, bestätigt durchaus die Regel.

Dieser reichste und erfolgreichste Schweizer Verlag war schon immer mehrheitlich auf den ganzen deutschen Mark ausgerichtet und agierte mit Vorliebe international, sowohl in Bezug auf Autoren wie auch in Bezug auf Medien und Marketing. Wer nach Ursachen für das Malaise der Schweizer Literatur forscht, muss also notgedrungen den Finger auf die wunden Stellen im eigenen Land legen.

Erstes Tabu: In der Schweizer Literaturszene herrschen kartellartige Zustände, die in dieser Form in Deutschland undenkbar wären. Selbstverständlich handelt es sich nicht um ein offizielles, sanktioniertes “Kartell”, sondern um stillschweigend akzeptierte Verhältnisse. Der Grund liegt vor allem in den schweizerischen Miniaturverhältnissen, in denen jeder jeden kennt.

Auf dem helvetischen Literaturparkett bekommen es früher oder später alle Akteure miteinander zu tun, oder deutlicher: Sie sind aufeinander angewiesen. Das heimliche “Kartell” funktioniert wie in der Wirtschaft, nur dass es, im Gegensatz dazu, unkontrolliert und unreflektiert abläuft. Wie auf dem Wirtschaftsmarkt kommt es zu vertraglich durchaus ungeregelten, menschlich vielleicht sogar verständlichen Verhaltenskoordinierungen unter befreundeten Kollegen.

Erscheint ein neues Buch, ergibt sich oft innert kürzester Zeit unter den wenigen einflussreichen Literaturkritikern eine Übereinstimmung des Urteils. Nicht, dass dies Strategie wäre. Die so genannten “Absprachen” sind eher informell und kommen aufgrund von Gruppendruck und Zugehörigkeitsphänomenen zustande sowie aus mangelnder Zivilcourage und Eigenständigkeit der Kritiker.

Für die Wirkung ist das einerlei. Das Phänomen führt zu einer fatalen Verkrümmung des Wettbewerbs. Ein diffuses Feld mit diffuser Motivlage – eine wirkliche Grauzone. Erscheint in der “NZZ am Sonntag” beispielsweise eine Hymne zu einem neuen Schweizer Roman, und wird dieses Loblied, so wenig es faktisch belegt sein mag, von einer befreundeten Kollegin im “Literaturclub” des Schweizer Fernsehens euphorisch flankiert sowie einem weiteren Mitglied des “Literaturclubs” unterstützt, das als Literaturredaktor bei Radio DRS ebenfalls Einfluss auf die Rezeption des Buches hat, ist das Rennen in der Schweiz gelaufen.

Jeder, der Einwände vorbringt, ist dann entweder ein Landesverräter, ein Gotteslästerer, ein Ignorant oder kommt sich dumm vor. Kaum einer, der auf die Länge genug widerborstig wäre, sich diesem verschwiegenen “Kartell” zu widersetzen. Der Schaden wäre nämlich vorausprogrammiert: Vielleicht will der Kritiker selbst einmal in den “Literaturclub” gewählt werden, also ist Vorsicht am Platz.

Wer möchte schon ausgegrenzt werden? Bevor noch ein eigenständiges Urteil zustande kommt, lässt man die eigene Interessenlage blitzschnell innerlich Revue passieren und erwägt die Chancen zur Lancierung oder Befestigung des Egoprodukts. Der weitere Rezeptionsprozess in der Schweiz verläuft dann meist dominoartig. Kleinere Medien ziehen in aller Regel nach, ihre Feuilletons richten sich reflexartig nach dem Urteil der Leitmedien.

Also sind es schliesslich wenige Kritiker, die das schweizerische “Literaturkartell” kontrollieren und die “Preise” festlegen. Die finale Überraschung kommt erst beim Export ins Ausland. Plötzlich sind die Schweizer Marktregeln ausser Kraft gesetzt, der Wettbewerb spielt wieder. Das Buch steht für sich allein und kann sich nur dank seiner Qualität behaupten. Kein Wunder, dass die Einschätzung jetzt häufig plötzlich völlig anders aussieht.[pagebreak]


DIE FEUILLETONS VERSCHWINDEN
Zweites Tabu: Stillschweigend ausser Kraft gesetzt wird die Demokratie auch durch das Eindampfen der Feuilletons sowie durch das unüberlegte Umdefinieren von medialen Foren, die früher einmal der Literatur dienten. Wo keine Konkurrenz herrscht, gibt es keine Demokratie, wo kein Wettbewerb spielt, gibt es kaum Gerechtigkeit. Auch da sind die Verhältnisse bei unserem nördlichen Nachbarn ganz anders.

Die Debatten und Kampagnen um Martin Walser oder Günter Grass haben eines exemplarisch an den Tag gebracht: Der Schlagabtausch zwischen deutschen Feuilletons hat durchaus produktive Folgen. Bricht ein Streit los, sind sofort unterschiedliche Teilnehmer im Spiel, welche die Klingen kreuzen. Das ist gut so.

Die Konkurrenz unter den Medien- und Literaturzentren München, Frankfurt, Hamburg und Berlin hat demokratisierende Auswirkungen, der Disput zwischen den Feuilletons der überregionalen Tages- und Wochenzeitungen erst recht. Der Konsument wird mit gegensätzlichen Positionen konfrontiert und kann seine Schlüsse selber ziehen. Nicht so in der Schweiz.

Nicht nur verweigert man sich auf der kleinen Insel Europas gerne den öffentlichen Debatten und regelt die Probleme lieber in verschwiegenen Hinterzimmern. Nicht nur ist Zürich in Wahrheit das einzig einflussreiche Zentrum. Auch der Platz für die Auseinandersetzung in den Medien wird immer kleiner. Die Krise der Printmedien seit 2001 lässt sich am Schrumpfen der Kulturseiten und am sinkenden Anteil des literarischen Feuilletons geradezu modellhaft ablesen.

Neueste Hiobsbotschaften: In der “Berner Zeitung” wurde der Kulturteil ganz abgeschafft und einem deregulierten Ressortbetrieb preisgegeben. Durchsetzen kann sich im Blatt nur noch, was von allen akzeptiert wird – kein Wunder, dass die Literatur auf der Strecke bleibt. Die “Weltwoche” hat beim jüngsten Umbau den Kulturteil aus Spargründen zusammengestrichen. “NZZ”, “Basler Zeitung”, “Berner Bund” und “Tagesanzeiger”, traditionellerweise die wichtigsten Podien für Literaturkritik in der Schweiz, haben ihre Feuilleton- und Buchseiten zum Teil massiv gekürzt.

Im Schweizer Fernsehen dagegen bot die Sendung “Sternstunde Philosophie” bis vor drei Jahren unter anderem auch eine Bühne für die Debatten zeitgenössischer Literaten aus dem In- und Ausland, für aktuelle gesellschaftliche Diskurse, die sich eben auch und vor allem anderen seismografisch in der zeitgenössischen Literatur abbilden.

Die Sendung hat inzwischen ihre Funktion als kulturelle Referenzsendung eingebüsst – zugunsten eines unscharfen Profils mit politisch-wirtschaftlichem Schwergewicht. Nichts spricht gegen die politische Debatte in dieser Kultursendung, wenn denn Mischung und Themenbalance stimmen würden und der Begriff “Philosophie” nicht als blosses Etikett diente. Dass man es besser machen könnte, demonstriert amüsanterweise der in der Deutschschweiz gerne belächelte Tessiner Sender TSI 1 in seiner Sendung “Buonasera” zur besten Primetime am Samstagabend.

Was Moderator Michele Fazioli für das kulturelle Leben der Schweiz leistet, ist durchaus imponierend. Abwechslungsweise zu anderen kulturellen, philosophischen und politischen Themen stellt er alle vierzehn Tage Autoren und Bücher aus dem In- und Ausland vor – mit einer Begeisterung, einer Kompetenz und einem souveränen thematischen Weitblick, der den Zuschauer gleichzeitig begeistert und ihm zu vielfältigem Erkenntnisgewinn verhilft.[pagebreak]


FÖRDERT MIT MEHR PHANTASIE!

Drittes Tabu: die Literaturförderung. Ausgerechnet in Zeiten, in denen junge Schweizer Autoren finanziell unterstützt werden wie nie zuvor, bricht die Schweizer Literatur ein. Das wirft Fragen nach dem Erfolg dieser Förderung auf, die ohne Scheuklappen diskutiert werden müssen. In der Schweiz wurde die Kultur- und Literaturförderung seit den achtziger Jahren des letzten Jahrhunderts entscheidend ausgebaut, Städte, Kantone, Gemeinden, Stiftungen leisten Beiträge wie nie zuvor.

Gewiss, ohne finanzielle Unterstützung, die den nötigen Freiraum schafft, kommt auch auf diesem Terrain nichts zustande. Trotzdem scheint es keine zwingende Beziehung zwischen Subventionen und künstlerischem Erfolg zu geben. Ohne das Kind mit dem Bad ausschütten zu wollen, müssen neue Förderungsmodelle und Denkansätze diskutiert und unkonventionelle Experimente gestartet werden.

Denkbar ist auch die Schaffung eines renommierten nationalen Wettbewerbs, ein “Grosser Preis der Schweizer Literatur”, der die produktive Konkurrenz unter den Schriftstellern anstacheln und der Literatur dieses Landes grössere Resonanz verschaffen könnte. Wo kein Humus ist, entsteht keine elektrisierende Literatur. Wo Enge ist, gibt es keine Höhenflüge der Phantasie und keine atemberaubenden Visionen.

Wo aber die Literatur fehlt, mangelt es einer Gesellschaft an einem Medium, mit dem sie zwanglos ihre eigene Identität überdenken, ihre Ziele überprüfen und ihre Wirklichkeit reflektieren kann. In der Literatur eines Landes spiegeln sich Entwicklungen und verraten sich Konflikte, die von der Gesellschaft noch lange verdrängt werden. Das zeigte nicht zuletzt die krisenhafte Auseinandersetzung mit der Schweiz im Zweiten Weltkrieg.

Die helvetischen Literaten thematisierten die unangenehme Wahrheit lange, bevor sie ins öffentliche Bewusstsein drang. Eine Gesellschaft, die sich um ihre kritischen Vordenker bringt, die in Zeiten der Krise respektlos die Wahrheit aussprechen und das Undenkbare formulieren, bringt sich um ihr wichtigstes Potential zu Fortschritt und Veränderung.

Eine deutliche Lektion ist aus der Erfahrung der streitbaren Schriftsteller-Väter zu ziehen: Nicht das artige Mittelmass setzt sich auf lange Sicht durch, nicht die brave Wohlfühlliteratur bringt Erkenntnis, nicht das Verharren in der eigenen Optik verschafft Einsichten, die uns weiterbringen, sondern Risiko, Ausbruch. Übermut, Mutwille, Provokation, Konflikt und Konfrontation mit den bestehenden Verhältnissen.


Tipp:


"Was taugt die Schweizer Literatur?"


Podiumsdiskussion an der "BuchBasel"


mit Pia Reinacher, Egon Ammann und Dirk Vaihinger


Moderation: Urs Heinz Aerni.


Sonntag, 13. Mai 2007, 10.00 – 10.45 Uhr, Sachbuchforum

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