Kempowskis Lebensläufe
admin | Posted 01/06/2007 | Autoren | Keine Kommentare »
Was macht ein Mensch mit 8000 Lebensläufen, persönlichen
Dokumenten und 300.000 Fotos in seinem Archiv? Wenn er Walter Kempowski heißt,
entsteht daraus im Lauf von Jahrzehnten das Lebenswerk eines Schriftstellers -
eine "Deutsche Chronik", ein zeit- und sozialgeschichtlicher
Mikrokosmos, an dem er 25 Jahre gearbeitet hat.
Fast ein Leben lang war er auf der Suche nach einer
verlorenen Zeit und machte die wiedererweckte Erinnerung zu seinem Kapital.
Denn Walter Kempowski kann nicht vergessen, seine Dorfschullehrerzeit nicht und
auch nicht die acht Jahre Zuchthaus Bautzen in der frühen DDR, und doch hat der
Rostocker Sohn eines Schiffsmaklers nie den ironischen, sicher auch oft
bitter-ironischen Grundton seines Lebens verloren, während er unermüdlich gegen
das "große Vergessen" um ihn herum im Nachkriegsdeutschland geschrieben
hat.
Manche Kritiker meinten, eigentlich habe er doch weniger
"selbst geschrieben" als mehr "gesammelt". Das haben große
Kollegen vor ihm natürlich auch getan, wenn sie ihre Profession ernst nahmen,
nur hat Kempowski diese Sammelwut vielleicht bis zum Äußersten getrieben. Das
gesamte Archivmaterial, das zu den umfangreichsten Schriftstellerarchiven
überhaupt gehört und seinesgleichen sucht, hat der 78-jährige krebskranke Autor
der Berliner Akademie der Künste übergeben. Sie präsentiert jetzt daraus eine
Auswahl in einer Ausstellung. Archivdirektor Wolfgang Trautwein spricht von
einem "gigantischen Erfahrungsspeicher" der Deutschen im 20.
Jahrhundert. Inzwischen gehört das Kempowski-Archiv neben denen von Bertolt
Brecht, Peter Weiss und Heinrich Mann zu den meistgenutzten der Berliner
Akademie.
Und er hat ja, wie die Ausstellung genauso akribisch
dokumentiert, nicht nur Material zu seinen Büchern gesammelt, sondern auch zu
seiner Biografie und seinen Vorfahren seit dem 16. Jahrhundert, und er sammelte
auch unveröffentlichte Autobiografien von Menschen, die er per Zeitungsannoncen
dazu ermunterte, ihm ihre persönlichen Familiengeschichten anzuvertrauen, um so
eine "Deutsche Chronik" zusammenzutragen, die dem Namen auch gerecht
wird. Außerdem hat der Schriftsteller seit 1947 auch Tagebuch geschrieben,
deren erste Teile schon veröffentlicht worden sind.[pagebreak]
Schließlich waren es rund 3,5 Millionen Archivblätter, die
der Autor 2005 der Berliner Akademie der Künste übergeben hat, "mit
Erleichterung, Wehmut und Dank", wie er damals in Berlin sagte. "Das
alles wegzugeben ist natürlich auch mit Wehmut verbunden. Aber ich bin auch
erleichtert, ich bin jetzt 76", sagte er damals, "und das