“Wer sucht, der verliert”

admin | Posted 03/08/2007 | Autoren | Keine Kommentare »

Elisabeth Binder


Elisabeth Binder
hat Orpheus und Eurydike in unsere Zeit versetzt.
Seite 4
sprach mit ihr über "Orfeo" und den Schauplatz Ihres Romans: Venedig.


Wissen Sie, was den Anstoß zu “Orfeo” gab?

Nein. Irgendwann hat die Idee für diesen Roman einen anderen, in Ansätzen bereits entworfenen Text verdrängt, der ebenfalls eine Suche nach etwas Verlorenem, dort eher Verschollenem, zum Thema gehabt hätte.


Die Kritik spricht von Melancholie und einem “schön-traurigen” Buch. Ein Effekt, den Sie sich erhofft haben?

Ich glaube nicht, dass ich auf einen bestimmten Effekt gehofft habe. Was ich machen wollte, war ein “schönes” Buch, das ja!


Das heißt?

Das heißt vor allem: ein lebendiges Buch. Und das heißt unter anderem auch, dass da nicht einfach eine Stimmung – melancholisch oder traurig oder wie immer – herrschen kann. Gerade auf die permanenten Stimmungswechsel kommt es mir sehr an: diese atmosphärischen Schwankungen und Schwebungen des Gemüts, denen man ja auch im Leben, so empfinde ich es jedenfalls, ständig ausgesetzt ist.

Im Übrigen hat der Text für mich auch etwas Humorvolles, auch ein gewisses Leuchten, wie es zum Beispiel von dem Abend ausgeht, mit dem der Roman endet, dem “Abendlicht”: ein Glanz schon fast von hinter dem Horizont.


Ist Venedig als literarische Kulisse nicht langsam ausgereizt?

Entscheidend ist ja immer, was man daraus macht. Es stimmt natürlich, dass Venedig ein touristisches und literarisches Klischee ist. Fast schon ein Kunstort. Ein Kunstraum schon an und für sich. Das hat aber auch Vorteile. Da jedermann Venedig irgendwie kennt, verkörpert die Stadt eine nahezu universelle Erinnerung, was auf die Geschichte, die man erzählt, natürlich einen Einfluss hat.

Unter anderem kann man auf eine realistische Schilderung der Szenerie verzichten und sich fast spielerisch auf ein paar Andeutungen und Namen beschränken, um den Schauplatz präsent zu machen. Im Übrigen hat die Stadt auch etwas Irreales, vielleicht auch Archetypisches, Magisches, Mythisches.

Jedenfalls berührt diese Stadt wie keine andere, schon der Name “Venedig” oder das weiche Wort “Lagune” wecken tiefe, unergründliche Gefühle. Das alles kam mir für diesen Roman entgegen, der ja nicht realistisch ausgeschildert, sondern legendenhaft knapp gehalten ist, erzählt in der Gegenwart, aber vor dem Hintergrund einer viel älteren, mythischen Geschichte.


Sie arbeiten mit einer stillen und rhythmischen Sprachform. Wie fanden Sie zu Ihrem Stil?

Das ist eine schwierige Frage, aber natürlich die Hauptfrage im Grunde: Wie findet man zu einer sprachlichen Form, die sowohl der eigenen Empfindung als auch dem jeweiligen Stoff entspricht? Da spielt sicher immer vieles hinein: Lese-, Schreib- und Lebenserfahrung. Das Temperament. Die Umgebung, in der man sich bewegt, die Gesellschaft, die Landschaft, die “Weltanschauung” im weitesten Sinn.

Die Kunstanschauung. Aber im entscheidenden Moment ist es nie ein vorgegebener Stil, sondern immer die konkrete Arbeit am Text, das heisst an der Gestaltung eines Stoffs, der Welt, die man herstellt, als Analogon der Realität oder als Gegenwelt, welche die entsprechende Sprachform verlangt und hervorbringt. Und Sie haben recht: Der Rhythmus ist mir wichtig, die Sprachmelodie, die musikalische Dynamik und Dimension der Sprache.


Ihre Hauptfigur ist ein alter, einsamer Schwei zer Fabrikant, der in Venedig nach seiner großen Liebe sucht. Haben Sie Mitleid mit ihm?

Nein, überhaupt nicht, das wäre auch eine schlechte Voraussetzung für das Schreiben. Mitgefühl schon, mit leichter Ironie durchsetzt. Ich mag diesen Mann, der zwar seine Schwächen und sehr schweizerischen Hemmungen hat, aber doch auch seine deutlichen Qualitäten.

Im Übrigen muss man ihn auch nicht bemitleiden. Vielleicht ist dieses Leben, das er geführt hat – sehr einsam, aber doch in engem Kontakt mit der Natur, mit dem Wappenzeichen einer verlorenen Liebe darüber – genau sein Leben gewesen. Ohne gesellschaftlichen Erfolg, aber nicht ohne Sinn, nicht ohne Liebesfähigkeit. Und das ist doch schon viel!


“Orfeo” ist an die Sage von Orpheus und Eurydike angelehnt. Deren Muster heißt nicht “Wer sucht, der findet”, sondern im Gegenteil: “Wer sucht, der verliert”. Das erlebte Orpheus, und das erlebt Ihr Protagonist. Ist das die Botschaft des Buchs?

Nein! Wäre es mir auf ein simples Statement angekommen, hätte ich mir die Mühe und auch die Freude, eine Geschichte zu erzählen, ja sparen können. Eine Erzählung ist immer ein Stück Leben, in Literatur verwandelt. Also in jedem Fall etwas Offeneres und Weiträumigeres, auch Weitherzigeres hoffentlich, als eine Botschaft.

Und am offensten ist vielleicht der Mythos, hier der Orpheus-Mythos, so offen, oder man kann auch sagen ursprünglich und universell, dass neue Adaptionen, Variationen oder Übermalungen zu jeder Zeit möglich sind.


Vielen Dank für das Gespräch!



Mit Elisabeth Binder sprach Urs Heinz Aerni

Elisabeth Binder: Orfeo.
Klett-Cotta, 165 Seiten

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