Kaltes München, totesLeben
admin | Posted 06/09/2007 | Krimis | Keine Kommentare »
Das neue Buch Andrea Maria Schenkels belegt ihr Talent als Geschichtenfinderin und Geschichtenerzählerin.
Andrea Maria Schenkel ist zweifelsohne DIE literarische Überraschung des letzten Jahres gewesen. Vor anderthalb Jahren noch gänzlich unbekannt, ist die 1962 geborene Autorin, die mit ihrer Familie auf dem Land in der Nähe von Regensburg in Bayern lebt, heute in aller Munde und gilt als aufsteigender, wenn nicht schon als hell strahlender Stern am dunklen deutschen Krimi-Firmament.
Ihr Roman “Tannöd” über einen bis heute unaufgeklärten Mord auf einem oberbayerischen Einödhof in den 1920er Jahren war für den kleinen Hamburger Verlag Edition Nautilus wie für sie selber ein in diesen Riesendimensionen – bis heute verkaufte sich das Buch rund dreihunderttausendmal; gerade wurden Auslandslizenzen nach Großbritannien verkauft – völlig unerwarteter Überraschungserfolg.
Mit ihrem neuen Buch entfernt sie sich allerdings einen erheblichen Schritt vom Krimigenre und nähert sich der kritischen Heimatliteratur eines Lion Feuchtwanger, einer Marieluise Fleißer an. Am nächsten kommen ihrer Prosa noch die fulminanten München-Kriminalromane Robert Hültners um Inspektor Kajetan, die zwischen 1918 und 1925 spielen ("Walching", "Die Godin").
Denn die Erwartungen, wer denn nun der Triebtäter und Frauenmörder in München zwischen 1931 und 1937 ist, werden von Anfang an von Andrea Maria Schenkel grandios unterlaufen. Dass es der Rangierarbeiter Josef Kalteis ist, steht fest. Auch dass er dafür hingerichtet wird. Mit seiner letzten Nacht, seinem letzten Gang setzt das Buch ein.
Es gibt weder einen Ermittler, ja nicht einmal eine Ermittlung. Was Andrea Maria Schenkel weitaus stärker interessiert als irgendwie geartete polizeiliche Aktivitäten, ist einerseits Atmosphärisches und andererseits eine dumpfe, auch bösartig-verbitterte Schicksalsgetriebenheit und das Gefühl, dem Leben, das über einen kam, ausgeliefert zu sein.
Denn die zweite Hauptfigur dieses Buches ist die junge, naive 20-jährige Kathie. Sie kommt 1931 aus der bayerischen Provinz nach München, will dort ihr Glück machen und zugleich das Leben genießen. Was eine Beschäftigung als Dienstmädchen ausschließt. So verschlägt es sie in entsprechende zwielichtige Gesellschaft in entsprechenden Wirtschaften. Sie verguckt sich in Männer, die sie kalt ausnutzen. Sie beginnt – es sind die Jahre der Weltwirtschaftskrise – gegen Bezahlung mit Fremden zu schlafen, um durchzukommen, ohne sich dabei explizit als Prostituierte zu fühlen. Und sie wird das erste Opfer des Frauenmörders, dem weitere folgen werden.
Diesen Josef Kalteis formte Schenkel nach einem realen Vorbild, einem exekutierten Verbrecher, dessen Geschichte kaum bekannt ist, konnte und durfte es doch solche Verbrechen in der nationalsozialistischen “Volksgemeinschaft” nicht geben.
Einen Chor aus Aussagen über harte, lieblose Leben arrangiert Andrea Maria Schenkel in beeindruckender Manier und in kunstvoll stilisiertem Dialekt zu einem dichten und düsteren Panorama.
Für ihren ersten Roman "Tannöd" (2006) wurde Andrea Maria Schenkel mit dem Deutschen Krimi Preis (1. Platz), mit dem Friedrich-Glauser-Preis 2007 in der Kategorie "Debüt" sowie mit dem Corine-Publikumspreis ausgezeichnet.
Das Buch:
Andrea Maria Schenkel: Kalteis. Verlag Edition Nautilus, 2007