Schelmen-Essay
admin | Posted 25/09/2007 | Uncategorized | Keine Kommentare »
Nicht gelesen haben, aber mitreden wollen. Das geht, behauptet der französische Literaturprofessor Pierre Bayard.
Der englische Schriftsteller Graham Greene hat die Situation in seinem klassischen Roman noir "Der dritte Mann" exemplarisch dargestellt: Der amerikanische Wildwestschund-Autor Holly Martins soll in einem Vortrag einem kunstbeflissenen Wiener Publikum seine Meinung zur literarischen Moderne darlegen. Er hat nicht die geringste Ahnung, zieht sich aber mit kluger Naivität, etwas Charme und der konsequenten Ausnutzung von Allgemeinplätzen achtbar aus der Affaire. Die Zuhörer verlassen den Saal im Anschluss an seine Einlassung im Eindruck, etwas gelernt zu haben. Zumindest glauben sie das.
Das funktioniert, glaubt auch Pierre Bayard, französischer Literaturprofessor, Psychoanalytiker und – nach eigenen Angaben – erfahrener Nichtleser. "Man muss ein Buch nicht gelesen haben, um eine genaue Vorstellung von ihm zu haben und nicht nur in allgemeiner, sondern auch sehr persönlicher Weise über es reden zu können. Jedes Buch ist ein Teil dieses großen Ganzen, das ich kollektive Bibliothek genannt habe, und diese muss man nicht vollständig kennen, um ein bestimmtes Element davon richtig einzuschätzen . . ."
Recht hat er, man braucht ja auch nicht "Sister Morphine" zu kennen, um zu wissen, was für eine Musik die Rolling Stones machen. Aber die Erwähnung der Wichtigkeit des frühen Bluesgitarristen Robert Johnson für die musikalische Entwicklung von Keith Richards ist in einem Gespräch ein deutlicher Distinktionsgewinn, für den man keine "Sticky Fingers" benötigt.
Bayard, dieser gescheite Schelm, unterscheidet in seinem Buch, das er selbst kühn und recht als "Essay" bezeichnet, zwischen verschiedenen Arten des Nichtlesens: Bücher, von denen man noch nie gehört hat, solche, die man quergelesen hat, diejenigen, die man vom Hörensagen kennt und solche, die man schon wieder vergessen hat.
Und er katalogisiert die verschiedenen Situationen, in denen man sich als Nichtleser zu behaupten hat. Dabei schlägt er vor, einfach mal ein Buch zu erfinden, wenn das Thema dann doch zu brenzlig wird. "Denn die Fähigkeit, mit Scharfsinn über Dinge zu reden, die man nicht kennt, ist weit über das Universum der Bücher hinaus von Vorteil."
Auch da hat er Recht. Bayard hat ein hintersinniges Buch geschrieben. Man sollte es aber lesen.
Pierre Bayard:
Wie man über Bücher spricht, die man nicht gelesen hat, Kunstmann, 222 Seiten, 16,90