“Esra” scheitert vor Bundesverfassungsgericht
admin | Posted 15/10/2007 | Autoren | Keine Kommentare »
Der stark autobiografisch gefärbte Roman
"Esra" des deutschen Schriftstellers Maxim Biller bleibt verboten.
Nach jahrelangem Rechtsstreit hat das deutsche Bundesverfassungsgericht das
Erscheinen des mehrfach entschärften Romans endgültig untersagt. Das 2003
aufgelegte Buch verletze das Persönlichkeitsrecht von Billers Ex-Freundin, weil
sie eindeutig als "Esra" erkennbar sei und der Roman intimste Details
der Liebesbeziehung zwischen der Romanfigur und dem Ich-Erzähler Adam
schildere, heißt es in dem am Freitag veröffentlichten Beschluss.
Damit wiesen die Karlsruher Richter eine
Verfassungsbeschwerde von Billers Kölner Verlag Kiepenheuer & Witsch im
Wesentlichen ab und bestätigten ein Urteil des Bundesgerichtshofs (BGH) vom
Juni 2005. Drei der acht Karlsruher Richter stimmten allerdings gegen die
Entscheidung und warnten vor einer Tabuisierung des Sexuellen.
Allerdings versagten die Verfassungsrichter – anders als der
BGH – der Mutter von Billers Ex-Freundin einen eigenen Verbotsanspruch. Im
Roman wird sie als herrschsüchtige, psychisch kranke Alkoholikerin Lale
geschildert. Trotz Erkennbarkeit reiche dies nicht für ein Verbot. Die realen
Vorbilder waren vor allem deshalb identifizierbar, weil die Tochter den
Bundesfilmpreis (im Buch: "Fritz-Lang-Preis") und die Mutter den
alternativen Nobelpreis ("Karl-Gustav-Preis") erhalten hatten. Nun
muss der BGH noch einmal entscheiden – was aber am Verbot auf Antrag der
Tochter nichts ändern wird. Zudem verhandelt im Dezember das Landgericht
München über eine Klage der beiden Frauen auf 100.000 Euro Schadensersatz.
Verlage und Autoren reagierten ablehnend auf die
Entscheidung: "Jedes Buch sollte erscheinen dürfen", sagte Günter Grass
auf der Frankfurter Buchmesse. Dann könne jeder Leser sein Urteil fällen. Lügen
dürften jedoch nicht verbreitet werden, ergänzte der Schriftsteller, der mit
seinem Biografen Michael Jürgs juristisch um die Streichung der Behauptung
kämpft, er habe sich freiwillig zur Waffen-SS gemeldet.
[pagebreak]
Auch Wagenbach-Verlegerin Susanne Schüssler plädierte für
Meinungsfreiheit, gab allerdings zu bedenken, dass der Schutz der Privatsphäre
ebenfalls seine Berechtigung habe. "Jeder, der auch nur ein wenig in der
Öffentlichkeit steht, weiß, wie brutal Öffentlichkeit sein kann." Der
Verlag Kiepenheuer & Witsch zeigte sich "zutiefst enttäuscht",
sprach aber von einen Teilerfolg. Dagegen sagte der Anwalt der beiden Frauen,
durch das Urteil würde die Literatur davor bewahrt, als trojanisches Pferd für
Verletzungen des Persönlichkeitsrechts missbraucht zu werden.
Nach der Karlsruher Grundsatzentscheidung des Ersten Senats
schützt die Kunstfreiheit die Verwendung von Vorbildern aus der Wirklichkeit.
Auch wenn hinter den Figuren reale Personen erkennbar seien, sei ein Roman
"zunächst einmal als Fiktion anzusehen". Bei Kollisionen mit
Persönlichkeitsrechten sei eine solche "kunstspezifische Betrachtung"
notwendig. Deshalb rechtfertigt die bloße Erkennbarkeit noch kein Verbot. Andererseits muss, so das Gericht, auch die Kunstfreiheit
einem absolut unantastbaren "Kernbereich privater Lebensgestaltung"
weichen, "zu dem insbesondere auch Ausdrucksformen der Sexualität
gehören".
Der 47-jährige Biller, der in den 80er Jahren durch seine Kolumne
"Hundert Zeilen Hass" in dem Magazin "Tempo" bekannt wurde,
gilt als provokanter Kritiker des Kulturbetriebs. "Esra" ist sein
zweiter Roman. Zu Billers bekanntesten Arbeiten gehören "Wenn ich einmal
reich und tot bin" (Erzählungen, 1990) und "Die Tochter" (Roman,
2000), in dem Werk beschreibt er schonungslos und detailliert eine inzestuöse
Vater-Tochter-Beziehung. (APA/dpa)