Jedes Restaurant ist ein Theater
admin | Posted 16/10/2007 | Uncategorized | Keine Kommentare »
Die Gastrospionin Ruth Reichl unterwegs in New York
So etwas nennt man Künstlerpech. Da sitzt im Sommer 1993 Ruth Reichl im Flugzeug von Los Angeles nach New York, um in Manhattan eine Wohnung zu suchen. Denn drei Monate später soll sie als Restaurantkritikerin bei der New York Times anfangen.
Doch während des Fluges wird sie nicht nur von ihrer Sitznachbarin erkannt, die in der Ostküstenmetropole in einem Restaurant arbeitet. Sondern Ruth Reichl erfährt von ihr, dass in jeder namhaften Restauration in New York bereits ihr Foto hängt, auf dass jeder Mitarbeiter sie erkennen und perfekt bedienen möge, um sich eine Bestnote in Reichls Kolumne zu verdienen. Die Kritikerin ist sprachlos. Denn so ist jede Grundlage für eine Beurteilung normaler Alltagsleistung perdu.
Was tun?
Es bleibt ihr nur eines übrig, um als Testerin überleben zu können – sie muss sich verkleiden. Und schauspielern. So tritt sie auf als unsichere Dame aus der Provinz, als Xanthippe, als Arztfrau mit Späthippieflair und roter Wallewalleperücke sowie als Blondine.
Mit jedem neuen Charakter agiert sie einen Charakterzug aus, der mal sympathisch ist, mal auch überraschend abstoßend, weil arrogant und oberlehrerinnenhaft. Und erzählt davon glänzend, persönlich, klug und unterhaltsam.
Reichls Beschreibungen sind von hinreißender Sinnlichkeit und ihr Enthusiasmus ansteckend. “Jedes Restaurant ist ein Theater,” schreibt sie, “und die wirklich großen erlauben uns, in der Fantasie zu schwelgen, wir seien reich und mächtig. Wenn Restaurants ihre Seite des Handels einhalten, vermitteln sie uns die Illusion, wir seien von dienstbaren Geistern umgeben, die nur für unser Glück und unseren Genuss zuständig sind.”
Ihre Beobachtungen sind auch höchst appetitanregend, etwa, wenn sie von Sinneseindrücken geradezu überrollt wird: “Um mich herum zerteilten die Kellner Enten, die nach Fünf-Gewürz-Pulver dufteten, und sprenkelten Karamellsauce über pochierte Foie Gras. Sie löffelten Morchelsahne über grünen Spargel und flambierten Eiscremekugeln auf Aprikosentörtchen. Die Gerüche wirbelten um mich herum; in dieser Symphonie von Düften hatte ich das Gefühl, mit allen Poren zu riechen. Mein Körper begann zu prickeln, als sei er gefroren gewesen und taue jetzt langsam auf.”
Falscher Hase ist auch ein Porträt New Yorks in den neunziger Jahren. Reichl findet noch nostalgische Anknüpfungspunkte an ihre Kindheit im Greenwich Village der fünfziger Jahre, eine Welt freundlicher Metzger, hilfsbereiter Obsthändler, aufregender kleiner Geschäfte.
Und es ist auch ein schönes Porträt der wohl renommiertesten Zeitungsredaktion der Welt, der Skurrilitäten, Eitelkeiten, Freund- wie Feindschaften und quälend penibler Endredakteure der New York Times.
Das Buch:
Ruth Reichl: Falscher Hase. Als Spionin bei den Spitzenköchen. Aus dem amerikanischen Englisch von Theda Krohm-Linke. Limes Verlag, 2007