“Meine Phantasie ist zu allem fähig”
admin | Posted 31/10/2007 | Autoren | Keine Kommentare »
Zum 80. Geburtstag des Erzählers Ernst Augustin
“Es wird wieder erzählt”, hieß es 1970 auf der Frankfurter Buchmesse. Anlass war der Roman
Mamma (2007 in revidierter Form als Schönes Abendland neu veröffentlicht) von Ernst Augustin. Doch weder Buch noch Autor fanden Nachhall. So wie vier Jahre zuvor.
“Ich war dabei!”, telegrafierte aufgeregt eine deutsche Journalistin im Mai 1966 nach Deutschland. In Princeton an der Ostküste der USA hatte sich die Gruppe 47 getroffen – und der Münchner Autor und Arzt Ernst Augustin wurde gefeiert für sein Manuskript, das vier Jahre später unter dem Titel
Mamma erschien.
Doch sein Ruhm, so schildert es Augustin heute ironisch, währte genau drei Stunden. Bis ein “sehr junger Autor aus Graz” (Dieter E. Zimmer) zu einer Rede ansetzte: “Peter Handkes großer Auftritt, ein Aufstand gegen so gut wie alles, was sich an Literatur und Kritik auf dieser Tagung präsentiert hatte, nicht sehr artikuliert zwar, selber Geschimpf, doch radikal gemeint”.
Es sollte fast eine Generation benötigen, bis immer mehr Schriftsteller, der diesjährige Büchnerpreisträger Martin Mosebach ebenso wie der diesjährige aspekte-Preisträger Thomas von Steinaecker, das heute neun Romane und einen Erzählband umfassende Werk Ernst Augustins preisen und schätzen.
Und auch immer mehr Leserinnen und Leser!
Und zwar wegen der leichten, immer unangestrengter gewordenen, plastischen Sprache, die in ihrer kunstvollen Kunstlosigkeit unverwechselbar ist. Wegen der phantasmagorischen, sich überstürzenden Ereignisse, von denen berichtet wird in Romanen wie
Mahmud der Bastard (1992, Neuausgabe 2003),
Der amerikanische Traum (1989/2007) oder
Eastend (1982/2005). Wegen der traumhaften Vieldeutigkeit der so absichtslos daherkommenden und doch so raffinierten spielerischen Konstruktion von Büchern wie des wissenschaftsparodistischen Erotikons
Die Schule der Nackten (2003).
“Ernst Augustin zählt zu den Siebzigjährigen, mit denen die deutsche Literatur jung bleibt.” (Der Spiegel)
Ernst Augustin ist ein großartiger Magier des Grotesken – und zugleich grotesk unterschätzt. Diesem Spezialisten für Grenzüberschreitungen aller Arten gelingt der Schritt vom Alltag zum Albtraum mit nur wenigen Worten. Tiefen Ernst und närrischen Schalk spinnt er zusammen mit farbenfroh irisierendem Erzählgarn auf ernstem Grund.
Den Roman
Der amerikanische Traum begann er als Hammett-Hommage – und daraus ward ein Lobgesang auf die Fiktion: Ein 1944 von einem britischen Tiefflieger tödlich verletzter Junge erträumt sich in den letzten Lebenssekunden die haarsträubend spannenden Abenteuer um einen Detektiv namens Hawk Steen.
Und
Badehaus Zwei (2006) beginnt als Geschichte eines Erbschleichers, der die Identität eines Mitreisenden annimmt und als Verlorener Sohn zum reichen Schein-Vater zurückkehrt. Doch weit gefehlt, dass sich hieraus ein Schelmenroman entwickelt. Vielmehr wird ein schnell undurchschaubares Wechselspiel der Perspektiven und Identitätswechsel, rastloser Aufbrüche und Ankünfte inszeniert – das Badehaus wird zum Schreckenskabinett und zur wasserbenebelten Parabel der Schrecken des 20. Jahrhunderts.
Ernst Augustin ist ein Erzähler mit einem ganzen Arsenal fliegender Teppiche.
Dieser Arzt, der 1958 aus der DDR floh, drei Jahre in Afghanistan lebte und sich 1962 als psychiatrischer Gutachter in der bayerischen Landeshauptstadt niederließ, gehört zur Spezies der auftürmenden Kolossalbaumeister der Literatur, was auch sein eigenes Wohnhaus nahe des Schlosses Nymphenburg in München belegt. Jedem Leser ist das Gebäude aus Ernst Augustins vielleicht bestem Roman
Raumlicht: Der Fall Evelyne B. (1976/2004) bekannt: keine drei Meter breit, dafür mehr als 20 Meter tief, im Inneren von seiner Frau Inge mit farbenfroh ausgemalt und derart verschachtelt, dass bei all den Haupt-, Halb-, Zwischen- und versteckten Geschossen und Räumen die Orientierung verlieren geht, mit Palmendachgarten und einem eigenhändig eingebauten, verspiegelten Discosaal.
Wie begeht ein solch springlebendiger Autor seinen 80. Geburtstag?
Wenn nun sein Verlag in München zur Geburtstagsfeier lädt, dann wird das alles sein, nur kein steifes Literaturbegängnis. Die Vorgabe des leidenschaftlichen Tänzers Ernst Augustin: eine kurze Rede des Verlegers, danach bis in die Nacht hinein Salsa!
Das Buch:
Ernst Augustin: Romane und Erzählungen in acht Bänden. 2560 Seiten. C. H. Beck Verlag, München 2007. EurD 78, EurA 80,20 sFr. 131 (fr.Pr.)