Nur nicht vor dem Kind
admin | Posted 19/10/2007 | Belletristik | Keine Kommentare »
Das zärtliche Erinnerungsbuch des Ungarn András Nyerges an eine Kindheit während der Kriegs- und frühen Nachkriegsjahre.
Es ist alles andere als leicht, im Budapest des Jahres 1944 vier Jahre alt zu sein.
Vor allem nicht für András. Denn seine Familie steht unter der Fuchtel Iréns, seiner bigotten christlichen und ignoranten Großmutter väterlicherseits.
Vor allem ist es nicht leicht, weil sie, die lautstark ein hartes Regiment führt und in Permanenz inexistente Rechte und Privilegien für sich reklamiert – bis zum Umstand, dass ihr Sohn mit seiner Familie nie anders denn mit ihr gemeinsam wohnen darf -, ihre jüdische Schwiegertochter und deren Eltern, ein großbürgerliches Intellektuellenehepaar, verabscheut. Sie verhöhnt sie, wo es ihr nur möglich ist, demütigt sie, ist sarkastisch und verletzend. Von Anfang an war für sie die Ehe des von ihr psychisch an sie geketteten Sohnes, im Hauptberuf Schneider, aber weitaus talentierter als Musiker in einer jeden Abend auftretenden Band, unverständlich, eine Mésalliance, eine Schande.
Doch nicht nur der Schatten der herrischen Großmutter liegt über András’ Kindheit, auch Krieg und Nachkrieg verdunkeln sie nachhaltig. Schließlich ist Ungarn 1944 von der deutschen Wehrmacht besetzt, der Reichsverweser Horthy entmachtet und abgesetzt und die faschistischen Pfeilkreuzler emsig dabei, die ungarische Judenschaft zu terrorisieren und bei deren Deportation zu assistieren. Was schließlich auch seiner von ihm geliebten Großmutter Margit und seinem ebenso geliebten Großvater Zsiga, einem Freigeist, Publizisten und politisch engagierten Intellektuellen, widerfährt. Eines Tages im Sommer 1945 nach KZ-Haft stehen sie halbtot und abgemagert wieder in der Tür.
Von Bombardements wie Ignoranz, von Streitereien und Stimmungsschwankungen, von Sentimentalitäten, widerlichen Vorurteilen und Boshaftigkeiten erzählt András Nyerges in seinem literarischen Erinnerungsbuch. Er arbeitete nach einem Studium erst als Rundfunkredakteur, dann als Verlagslektor; seit 1989 ist er bei einer Zeitung in Budapest beschäftigt.
“Nichtvordemkind!” wurde in Ungarn zu einem Erfolg sowohl bei der Kritik als auch beim Publikum. Denn diesem Band haftet nichts journalistisch-reportagehaftes an. Es ist vielmehr Literatur, ist sehr genau beobachtet, dramaturgisch klug aufgebaut und in einem geradezu bezwingenden Ton geschrieben.
Denn erzählt wird aus der kindlichen Perspektive András’, der am Anfang vier Jahre alt ist und später neun, der am Ende, 14 Jahre später, als frisch diplomierter Literaturwissenschaftler eine Tante besucht und Familiengeheimnisse entdeckt.[pagebreak]
Nyerges überrascht sich wie den Leser bis zum Finale. Er schont auch weder sich noch den Leser. András ist nicht nur kränklich, sondern auch manchmal ausgesprochen vorlaut, verwirrt, ungebärdig und die Ermahnung “Nicht vor dem Kind!” bezieht sich nicht nur darauf, dass András kaum etwas für sich behalten kann. Sondern auch auf den Umstand, dass dies für die Familie gefährlich werden kann. Denn auch nach 1945 ist sie keineswegs in Sicherheit und vereint. Tritt doch nun an die Stelle Hitlers Stalin. András’ Mutter wird als Frauenbeauftragte zwangsverpflichtet und dem Oktroi eines Kollektivs unterworfen, der Vater wird in die tiefe Provinz verschickt.
Bei beiden schwingt nun Angst mit, Angst, dem kujonierenden Terror des Regimes nicht zu genügen, Angst, immer wieder mit ihrer einstigen politischen sozialdemokratischen Überzeugung konfrontiert und dergestalt gemaßregelt und bestraft zu werden.
All dies wird in dieser literarischen Erinnerung zärtlich erzählt, unsentimental und kunstvoll,. So vermischen sich etwa die Erinnerungen an die gemeinsamen Ausflüge mit seinem Großvater während dessen Begräbnisses sich in András’ Kopf mit der Gegenwart, der flüsternden Menschenmenge, den Nekrologen, dem Verhalten der Erwachsenenen.
”Großvater Zsiga fuchtelt mit seiner Zeitung herum.