Rabenmutter?
admin | Posted 25/11/2007 | Autoren | Keine Kommentare »
Julia Franck erzählt die Geschichte einer Frau, die ihren Sohn auf einem Bahnhof allein zurücklässt. Für ihren Roman wurde sie mit dem Deutschen Buchpreis 2007 ausgezeichnet .
Das Buch beginnt mit seinem Ende: Im Prolog lesen wir, wie 1945 in Stettin der siebenjährige Peter mit seiner Mutter Helene einen der letzten Flüchtlingszüge gen Westen erwischt. Im Jahr zuvor ausgebombt, ist der Junge mehrfach Zeuge geworden, wie die Eroberer die Mutter vergewaltigten.
Bei einem Zwischenhalt lässt sie ihn auf einem Bahnhof buchstäblich mutterseelenallein zurück, in seinem Gepäck einzig die Adresse eines fernen Onkels. Diese wahrlich unerhörte Begebenheit – so knapp wie anschaulich, suggestiv wie zupackend beschrieben – weckt unwiderstehlich Anteilnahme und Neugier. Wie kann es zu einer solchen Aussetzung kommen, was geht in der Mutter vor?
Diese Fragen sind der Motor für den vierten Roman der 37-jährigen Berliner Autorin, die vor zehn Jahren mit “Der neue Koch” brillant debütiert und zuletzt mit “Lagerfeuer”, der subtilen Darstellung verschiedener Schicksale in einem Auffanglager ausgereister DDR-Bürger, überzeugt hat. “Lagerfeuer” reflektierte autobiografische Erfahrungen und auch den auf der Flucht verlassenen Jungen hat Julia Franck in ihrer Familiengeschichte gefunden. Es ist das Schicksal ihres früh verstorbenen Vaters.
Freilich hat die Autorin weder mit ihm noch mit der Grossmutter je darüber sprechen können. So verbinden sich in “Die Mittagsfrau” fragmentarische Recherchen mit klug imaginierter und faszinierend fabulierter Fiktion, welche Helenes unglückliches Leben in die grosse Geschichte vom Ersten bis zum Zweiten Weltkrieg einbinden.
Sie wächst in der Lausitz auf, in Bautzen, wo der Vater eine Druckerei betreibt, die Mutter ihrer jüdischen Herkunft wegen aber stets eine Fremde geblieben ist und sich nach vier tot geborenen Söhnen ihrer beiden Töchter Martha und Helene nicht mehr freuen mag. Ohne Liebe aufgezogen, sehen sie die Mutter einer messiartigen Sammelwut verfallen und von Verwirrungsanfällen heimgesucht.
Als der Vater Jahre nach Kriegsende zum Sterben nach Bautzen zurückkehrt, nimmt die Gattin keine Notiz von ihm. Es sind die Töchter, welche die Wundstümpfe des todgeweihten Krüppels pflegen. Dann gelingt den jungen Frauen dank einer begüterten Tante in Berlin der Sprung aus der Provinz in die Metropole. So kann die Autorin die Berliner “roaring twenties” wieder aufleben lassen, mit allem Drum und Dran: Sex, Drogen, Kultur und Inflation.[pagebreak]
Da drohen mitunter Klischees und Längen, doch in der Zeichnung bleibt Franck differenziert. Martha, morphiumsüchtige Krankenschwester, lebt ihre Liebe zur Ärztin gewordenen Freundin Leontine aus. Helene erlebt nebst Missbrauch durch den Geliebten der Tante auch eine intensive, sinnlich-geistige Beziehung zum verlässlichen jüdischen Studenten Carl – bis zu
dessen Unfalltod. Danach erstarrt sie.
Ein paar Jahre später gibt Helene, ganz ohne eigene Gefühle, dem drängenden Werben eines mit dem Bau der Reichsautobahnen befassten NS-Ingenieurs nach. Doch als die abstossend lieblos verlaufende Hochzeitsnacht Helene als Nicht-mehr-Jungfrau offenbart, ist es mit Wilhelms Liebe vorbei. Die Darstellung dieses eisigen Eheelends und des ebenso rüde-brutalen wie widerlich- selbstgerechten Mannes zählt zu den Glanzstücken des Romans.
In der Pflege der Kranken und Verwundeten findet Helene Betäubung und Sinnreste, dem verzweifelt um ihre Zuwendung buhlenden Kind dagegen vermag sie keine Wärme zu geben. Am Ende bereitet sie ihr Verschwinden umsichtig vor. “Es sollte ihm an nichts mangeln, deshalb musste er fort, fort von ihr. Helene weinte nicht, sie war erleichtert.”
Der Epilog, zehn Jahre später angesiedelt und wie der Prolog überzeugend aus der Perspektive Peters geschrieben, zeigt den auf dem Hof des Onkels mehr als billige Arbeitskraft denn als Mensch geduldeten Jugendlichen, wie er sich hartnäckig versteckt, als die Mutter ihn erstmals besuchen will: “Er wollte sie sein Leben lang nicht mehr sehen.”
Die dürre Nacherzählung wird dem Reichtum und Reiz von Francks Erzählen nicht gerecht. Der Sog ihrer mal kühl-distanzierten, mal poetisch-warmherzigen Sprache, welche stets den stimmungsgerechten Ton und die richtigen Farben findet, beeindruckt ebenso wie der engagierte Ernst, mit dem sie sich über die Rätsel von Geschichte, Familie und Einzelnem beugt.
Klugerweise erfährt das Skandalon des Anfangs keine billige Begründung. Jede Leserin, jeder Leser wird am Ende abwägen, ob Helenes Verhalten nachvollziehbar ist.
Julia Franck: Die Mittagsfrau. S. Fischer,
432 Seiten
Julia Franck: Die Mittagsfrau.
Gekürzte Autorenlesung. Der Hörverlag,
6 CDs, 450 Minuten