Marcel Beyers kluger Zeitroman “Kaltenburg”
admin | Posted 07/04/2008 | Belletristik | Keine Kommentare »
Frankfurt am Main(dpa) – Vögel können etwas Unheimliches an sich haben,
zumal wenn sie uns ausgestopft aus den Vitrinen einer naturkundlichen
Sammlung anblicken.
Aber vielleicht geht die Beunruhigung gar nicht von
der zur Schau gestellten Kreatur aus, sondern liegt im menschlichen
Betrachter und seinen Vorurteilen verborgen. Auf diese Idee kann man
kommen, wenn man Marcel Beyers klugen Ornithologenroman "Kaltenburg"
gelesen hat.
Der 1965 in Westdeutschland geborene, seit 1996 in Dresden lebende
Autor, der bereits mit seinen Romanen "Flughunde" (1995) und "Spione"
(2000) das Spannungsfeld zwischen Wissenschaft und Geschichte
ausgelotet hat, erzählt die Biografie des fiktiven Zoologieprofessors
und leidenschaftlichen Tierfreundes Ludwig Kaltenburg, der nach dem
Zweiten Weltkrieg in Dresden sein Institut aufbaut, Anfang der 60er
Jahre die DDR verlässt und 1989 in Österreich stirbt.
Aber alles, was wir über diesen charismatischen Forscher wissen,
erfahren wir von dem Ich-Erzähler Hermann Funk, einem Schüler und
Vertrauten Kaltenburgs. Funk verliert als Elfjähriger bei der
Bombardierung Dresdens im Februar 1945 seine Eltern, und Kaltenburg,
ein Bekannter der Familie seit Hermanns Kindertagen, wird zu einer Art
Ersatzvater. Aber dieser merkwürdige Erzähler, der sich in der
Gegenwart in Gesprächen mit einer Dolmetscherin an Kaltenburg erinnert,
ist keineswegs eine objektive Instanz.
Im krassen Gegensatz zu Jonathan Littells skandalumwitterten
Breitwand-Roman "Die Wohlgesinnten", der mit grellen Effekten die Leser
schockiert, reflektiert Beyer die Schwierigkeiten historischen
Erzählens. So macht er seinen klug gebauten Roman immun gegen schnelle
Vereinnahmungen, arbeitet dezent mit Anspielungen, kultiviert eine Art
"verdecktes Erzählen". Dabei ist der Text sehr gut lesbar, weil immer
am konkreten Detail festgemacht. Wir erfahren sehr viel über
Mauersegler, Riesenalke, Dohlen und Nachtreiher.
Im ersten Teil gibt es eine scheinbar unschuldige, fast idyllische
Szene am Bahndamm. Funk ist noch ein Kind, er sammelt mit seinem Vater
seltene Gräser. "Und oben auf dem Damm die langsamen Züge, aus ein paar
Personen-und unzähligen Viehwaggons zusammengestellt, in denen sich die
Tiere niemals rühren, wohin fahren die, will ich von meinem Vater
wissen. Nach Osten – oder kennst du die Himmelsrichtungen nicht".
Hier tun sich die Abgründe deutscher Geschichte auf, erst der
Nationalsozialismus, dann die stalinistischen Verfolgungen in der DDR,
auch an den sowjetischen Antisemitismus erinnert Beyer. Dabei lässt
sich die Hauptfigur kaum fassen. Kaltenburg ist einerseits der
unpolitische Zoologe, der mit unzähligen Tieren das Haus teilt, eine
fast putzige, liebenswerte Figur: "Er hob den Deckel von der Teekanne,
als wolle er vorsichtig prüfen, ob sich ein Kleintier darin eingenistet
hätte." Andererseits agiert er als aalglatter Opportunist, der sich mit
jeder Diktatur auf seine Art arrangiert.
Eine unheimliche, frostige Atmosphäre zieht sich wie ein schnurgerader
Vogelflug durch diesen Roman, und nur Hermanns Funks Ehefrau Klara, die
seit ihrer Jugend von Marcel Prousts Riesenroman "Auf der Suche nach
der verlorenen Zeit" fasziniert ist, erscheint als Gegenfigur zu den
Karrieristen jedweder Couleur. Sie hegt Zweifel an der Selbstgewissheit
jeder Lebenserinnerung, "als könnten die Erinnerungen Halt bieten, wo
doch im Gegenteil die Rückschau uns zutiefst erschüttern, unser
jetziges Leben aus den Fugen geraten lassen müsste."
Marcel Beyer
Kaltenburg
Suhrkamp Verlag Frankfurt am Main