Im Zwischenreich
admin | Posted 22/06/2008 | Autoren | Keine Kommentare »
Auf Seite 4 stellt Hardy Ruoss Katharina Geisers Erzählband vor. Auf
DRS 2 ist der Literaturkritiker im Gespräch mit ihr zu hören.
“Das gehört sich so!” – wie leicht reden Erwachsene doch daher. Und wie schwer ist das zu fassen für ein Kind, dem dieses Gerede Wegleitung sein will für die Welt, die es draussen erwartet. Auch das Mädchen Rosa (“ROSA IST ROSA”) soll mit Redensarten ruhiggestellt und aufs Leben vorbereitet werden:
“Bist heute dem Teufel vom Karren gefallen, was?” Und so begreift das Kind schnell: “Draussen ist fast alles verboten”. Wo aber ist dieses Draussen? Katharina Geiser lässt es offen. Immer wieder führt sie uns in dieses Offene, Undefinierte. Einmal ist es der nächtliche See, in den hinaus ein Paar paddelt, ohne wiederzukommen (“Sehnot”). Dann wieder ist es das Leben einer Schlossherrin, das sich im “abgewetzten Prunk” spiegelt und im Satz: “Seit Monsieur starb, ist Madames Tatendrang gross” (“Goldfische schwimmen neben Karpfen”). Und dann wiederum sind es die Brandnarben einer Frau, die ihrem Geliebten über ihre “handtellergrossen Male” genausowenig verrät wie der Titel der Geschichte uns allen: “Feuer prägt”.
Wir bleiben drinnen, in einem präzise abgegrenzten Lebensbezirk, in dem die Erzählerin ihre Figuren agieren lässt. Es sind vor allem Frauen verschiedenen Alters und verschiedener Herkunft, darunter auch historische Persönlichkeiten wie die 1970 verstorbene deutsche Malerin aula Modersohn-Becker (“Die Zitrone in der Rechten”). Allen Geschichten ist eines gemeinsam:
Die Grenzen des jeweiligen Lebensbezirks werden durch etwas gesprengt, das von draussen kommt. In der Regel ist es etwas Vergangenes, das in der Gegenwart nachklingt; ein Du von damals vielleicht, das im Ich von heute überlebt. Die Gegenwart auf alle Fälle ist “nicht zu zügeln”. Denn alles, was die Figuren einmal zurückgelassen haben, wirkt weiter: verstörend und beängstigend, aber auch begütigend und heilsam. Geradezu beglückend erfährt dieses Miteinander von einst und jetzt, dieses Nebeneinander von drinnen und draussen die Hauptfigur in der Erzählung “Von den Anfängen”. Die Frau, nicht mehr ganz jung, ist unterwegs in Berns Laubengängen, allein, aber nicht einsam. Sie ist in guter Gesellschaft eines Kindes. Dieses Kind, von dem sie sich leiten lässt, ist ein Teil ihrer selbst, der über die Jahre hinweg lebendig geblieben ist. Es ist das Kind, das sie selbst einmal war, und es ist das ursprüngliche Vertrauen dieses Kindes in die Welt draussen, das sie nie verlernt hat.
Katharina Geiser erzählt anschaulich, aber dennoch auf eine wunderbare Art geheimnisvoll. Zwar wissen wir immer, woran wir mit den Figuren sind. Zugleich aber wissen wir auch, dass die Figuren sich nicht in unserem Wissen erschöpfen. Denn immer strahlt da etwas von draussen herein, das ihr Tun bestimmt, auf ihr Hoffen und Zweifeln einwirkt. Es offenbart sich in einem Wort, in einem Satz: “Wenn ich mein Bett allein bevölkere, bin ich näher bei dir” (“Sehnot”).
Diese Geschichten werden getragen, ja getrieben von einem erzählerischen Eros, mit dem Katharina Geiser sich Menschen und Dingen, Pflanzen und Landschaften – immer wieder auch dem Wasser – zuwendet und uns hinübersetzt an Orte zwischen dem Drinnen und dem Draussen, in das beglückende Zwischenreich der Poesie.
Text: Hardy Ruoss
Katharina Geiser: ROSA IST ROSA.
Meridiane Ammann, 224 Seiten