Impressionen aus Indien

admin | Posted 21/06/2008 | Belletristik | Keine Kommentare »

Den Herbst 2006 verbrachte Martin Mosebach in Bikaner, der Stadt der wilden Hunde.

Büchner-Preisträger Martin Mosebach hat ein fremdes Land, eine fremde Kultur auf sich wirken lassen. Bettina Schulte, Literaturredakteurin der Badischen Zeitung, ist in seinem Buch mit gereist.

Unter den Schriftstellern der Gegenwart gehört Martin Mosebach nicht zu den großen Reisenden – wie, um zwei der prominentesten zu nennen, Cees Nooteboom und Ilija Trojanow. Gerade in seiner jüngsten Erzählung “Der Mond und das Mädchen” hat er sich wieder dem hassgeliebten Frankfurt, dem biographischen und vielfachen literarischen Ort seines Schreibens, zugewandt.

Gleichwohl scheint der Büchner-Preisträger von 2007 immer wieder großen räumlichen Abstand zum Schauplatz seiner Romane zu brauchen: “Der Mond und das Mädchen,” diese zauberisch-ironische Verpflanzung von Shakespeares “Sommernachtstraum” in ein abgehalftertes Mietshaus auf einer vom Autolärm umbrausten Verkehrsinsel in der Stadt am Main, ist in Marokko entstanden.

Das erstaunt – und doch auch wieder nicht. Bei Mosebach scheint es so zu sein, als ob der Blick auf das Eigene stets auch einer Befremdung durch das andere bedarf. In seinen Romanen kommt es nicht von ungefähr immer wieder zu Fluchten in einen anderen Kulturkreis: In “Die Türkin” reist ein Jungakademiker einer schönen Türkin in ihr Land nach, in “Der Nebelfürst” gerät ein Journalist aus dem wilhelminischen Deutschland in die Polarregion.

Erst recht macht Mosebachs großer Indien-Roman “Das Beben” von 2005 das Wechseln zwischen zwei Welten zum Thema: Ein Architekt flieht vor der Gegenwart seiner treulosen Geliebten aus Frankfurt in ein von der elegischen Aura des Verfalls umwehtes indisches Fürstentum.

Auf die Fiktion folgt nun die Erfahrung. Im Herbst 2006 reiste Mosebach nach einer Einladung zum Goethe-Institut in Neu-Delhi für mehrere Wochen nach Bikaner, jener “Stadt der wilden Hunde”, der sein jetzt erschienenes neues Buch gewidmet ist.

Um was handelt es sich? Für bloße Reisenotizen sind die Aufzeichnungen des ungemein gebildeten Schriftstellers zu gelehrt. Als Essays möchte man sie aber auch nicht bezeichnen. Dafür sind sie zu flüchtig, zu sehr dem Augenblick hingegeben. Der Untertitel spricht in schöner Unaufgeregtheit von “Nachrichten aus dem alltäglichen Leben Indiens”. Man wird eingestimmt darauf, dass Mosebach nicht das Spektakuläre
sucht, nicht das Besondere oder Typische. Er ist weit davon entfernt, irgendetwas wie die “Wahrheit” über Indien zu liefern.

Wie vermessen wäre ein solcher Anspruch in den Augen dieses Indien-Besuchers, dem nichts so angelegen ist wie der unvoreingenommene Blick; und das nicht nur deshalb, weil es unstatthaft wäre, von einem Aufenthalt in einer für indische Verhältnisse mit 500.000 Einwohnern bescheidenen rovinzhauptstadt im Bundesstaat Rajastan auf den Zustand des Landes schlechthin zu schließen.

In die Wüstenstadt Bikaner kam Mosebach, da er bei einem gebildeten Ehepaar zu Gast war – was die Zufälligkeit dieser Ortswahl hinreichend erklärt. Nähere Auskünfte über seine nur mit den Vornamen Kitty und Sudhir benannten Gastgeber lässt der Autor nur spärlich einfließen; er
behandelt sie so beiläufig dezent, dass man sich manchmal nicht sicher zu sein glaubt, ob sie überhaupt existieren; wie man Mosebachs
nicht auf das Dokumentarische zielende “Nachrichten” auch als Erzählungen auffassen könnte.

Psychologie erscheint allerdings überhaupt als das gänzlich falsche Mittel, um sich indischer Mentalität zu nähern. Mosebach, der Augenmensch, beschränkt sich auf das, was er sieht – und das sind, entsprechend dem gehobenen Milieu des von einer zahlreichen Dienerschaft versorgten großbürgerlichen Hauses, in dem er untergebracht ist, die Inszenierung höfisch anmutender Zeremonien:

ein kunstvoll arrangiertes Picknick im Mondschein, ein sorgfältig vorbereiteter Fastentag, zu dem Männer nicht zugelassen sind, wechselseitige Besuche der verzweigten tonangebenden Familien, Ausflüge zu heiligen Stätten in der Umgebung.

Der Gast nimmt sich Zeit, die für einen Europäer nicht lesbare Welt zu erkunden; mit gleich bleibend wacher Aufmerksamkeit folgt er seinen Gastgebern zum Rattentempel von Deshnok, zum Ufer des Flusses Saraswati und zum Heiligtum des Schreck erregenden Gottes Bairov.

Er beobachtet die Straßenhunde, besucht die Bibliothek und einen selbst ernannten Dichter, lässt sich einen Gürtel fertigen und die gebleichte
Hose wieder färben. Die selbstverständliche Gegenwart des vielgestaltigen Heiligen im indischen Alltag kommt dem bekennenden Katholiken
Mosebach bei aller Fremdheit entgegen.

So verwundert es nicht, dass er immer wieder leichthin Verbindungen zur Kultur des Westens herstellt. Am Ende ist es dieser Doppelblick, der den Reiz des opulenten kleinen Buches voller Geschichten ausmacht. “Ich war kein Politiker und kein Botschafter einer gerechten Weltordnung”, schreibt Mosebach.

Deshalb wohl kann er sich Indien mit der größtmöglichen Offenheit nähern. Auf den “Anblick der Vollständigkeit” kommt es an. Das kann man auch als poetologisches Credo lesen.

Text: Bettina Schulte



Das Buch


Martin Mosebach: Stadt der wilden Hunde. Nachrichten aus dem alltäglichen Indien.

Hanser, 171 Seiten

Auch als
Hörbuch
:

Gelesen von Martin Mosebach.

Hörbuch Hamburg, 2 CDs

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