Zeig mir dein wahres Gesicht
admin | Posted 22/06/2008 | Belletristik | Keine Kommentare »
Ob gefühlvoll, frech oder anspruchsvoll – Cover sollten auf den Inhalt eines Buchs verweisen.
Der Sommer ist da! Jetzt strahlen in den Schaufenstern die Buchumschläge wieder in satten Farben – blütenweiss und azurblau, strandbeige und gartengrün. Jedenfalls gilt das für viele Taschenbuchaktionen, Urlaubsanthologien, Kochbücher und Reiseführer. Alle verkünden mit froher Laune, dass Ferienzeit auch Lesezeit bedeutet.
Ein Umschlag soll einen Kaufanreiz bieten. Und der Buchkäufer scheint heute stärker auf Umschläge zu reagieren als früher, weil er durch die herrschende gigantische Bilderflut daran gewöhnt ist, Botschaften über Bilder aufzunehmen. Literarische Titel hingegen kommen bislang noch ohne saisonale Gewandung aus. Aber auch ihre Umschläge sollen möglichst deutlich den Inhalt sichtbar machen. Im Gegensatz zum Sachbuch aber nicht, indem möglichst authentisch das Aussehen der Heldin oder der Hut des Kriminalkommissars abgebildet ist, sondern
indem signalisiert wird, welche Gattung, welche Tonlage, welcher Erzählstil in ihm steckt: Literatur, Unterhaltung, Krimi, Romanze, Thriller; skurril, frech, konventionell, emotional, anspruchsvoll.
Wie das geht, zeigt ein Beispiel aus dem eigenen Haus. Der lebenspralle Roman “Das Lied von Leben und Tod” des Argentiniers Marcelo Figueras, der im August bei Nagel & Kimche erscheint, enthält in der Tradition der grossen südamerikanischen Romanliteratur eine epische Fülle von Tragik, Komik, fantastischen Elementen, Lebensglück und Trauer – und er spielt in Patagonien. Der Umschlag zeigt einen Gemäldeausschnitt: ein grüner Leguan auf einem warmen, tiefgelben Fond.
Der Autor war erstaunt: In dem Buch spielen Tiere keine grosse Rolle; allerdings zwingt ein Latein sprechender Wolf den Helden Teo zur Flucht auf einen Baum. Warum ein Leguan, warum kein Wolf?, fragte Figueras. Weil man bei einem Wolf an alle möglichen Länder denkt, nur nicht an Südamerika. Obwohl es tatsächlich in ganz Patagonien keine Leguane gibt. (Wölfe allerdings auch nicht, wie Teo auf dem Baum
irritiert feststellt.)
Bild und Farbe des Umschlags signalisieren: Dies ist ein literarischer Roman, der alle Register epischer Dramatik zieht und im tiefen Hinterland Südamerikas spielt. Das ist die Botschaft – wer sich für so etwas interessiert, der braucht keine Sekunde, um die Zeichen richtig zu deuten.
LIEBER GENAU HINSCHAUEN
Literarische Titel sind Einzelwesen, ihr Gesicht lässt sich nicht serialisieren. Das macht das Bedürfnis nach einem wahrhaftigen Äusseren noch dringlicher. Die Verlage tun gut daran, auf Etikettenschwindel zu verzichten (etwa einen anspruchsvollen Roman als leicht verdauliche Ware zu deklarieren) – nicht so sehr aus moralischen Gründen, sondern weil an dem kleinen Zielpublikum auch noch vorbeigeschossen würde.
Dass die Bebilderung und Schriftwahl bei 80.000 deutschsprachigen Neuerscheinungen pro Jahr nicht ohne Überschneidungen, Wiederholungen und vor allem nicht ohne grausame Patzer abgeht, versteht sich von selbst. Leider gilt für solche Fälle immer noch die alte englische Weisheit: “Don’t judge a book by its cover” – lass dich vom Äusseren nicht über den Inhalt täuschen!