Alter Schwede

admin | Posted 14/07/2008 | Autoren | Keine Kommentare »

Johan Theorin © Eva Finder

Johan Theorin macht mit seiner neuen Krimireihe Furore. Seite 4 traf ihn am Tatort: auf der Ferieninsel Öland, deren mythische Landschaft ihn zu einem erstklassigen Krimi anregte.

Schweden ist auch nur endlich. Doch glauben kann man das nicht. Gotland und Kiruna hatten wir schon, Göteborg und Stockholm und die Wallander-Metropole Ystad, und jenes irgendwo zwischen Holland, Island und dem Polarkreis vernordete Maardam Håkan Nessers.

Jetzt ist zu all den spießigen, mittsommernächtlichen, mordtrunkenen Tatorten der zweitgrößten europäischen Krimination ein weiterer hinzugekommen: Öland.

Herbert Wehner, der knurrige SPD-Schulmeister, ist jahrelang dorthin gefahren, die schwedischen Könige machten Sommerferien dort, und der größte Campingplatz Europas befindet sich auch auf dieser schmalen, wie eine Lanzette vor der Südwestküste Schwedens liegenden Insel, die ihr Hauptmerkmal sogar im Namen trägt:

Öland bedeutet schlicht "Inselland". Dass diese freundliche, in den Sommermonaten von Hunderttausenden Urlaubern überrannte Ostsee-Nadel aus Steppe und Stein einmal weniger sommerfrisch und das Leben auf ihr hart, karg und gefährlich war, erzählt Johan Theorin in seinem ersten Kriminalroman "Öland".

Johan Theorin hat einen ungewöhnlichen Ermittler: den 80-jährigen Großvater eines verschwundenen Jungen.

Anfang März pfiff ein schneidender Wind über das geduckte Gestrüpp an der steil abfallenden Westküste und die Sonne strahlte mit der unerbittlichen Klarheit des Nordens. Nicht ein Stäubchen war am Himmel zu sehen. So war es schwer vorstellbar, dass hier der Nebel so dicht werden kann, dass man vollständig die Orientierung verliert.

So ist es 1972 dem sechsjährigen Jens passiert. Seine Großmutter hielt ihren Mittagsschlaf, und der Kleine überkletterte zum ersten Mal die Mauer, die den Garten ihres Sommerhäuschens von der Alvar trennte. Nur wenige Schritte hatte er im Nebel zwischen den dicht wachsenden Wacholderbüschen getan, als er bereits nicht mehr wusste, wo er war.

Welch ein Glück, dass ihm da ein großer kräftiger Mann begegnet. Wie Gentlemen stellen sie sich einander vor: Jens Davidsson und Nils Kant. "Hab keine Angst", sagt der Mann mit den größten Händen, die Jens je angefasst hat. Und dann sind das Kind und der Mann wie vom Erdboden verschwunden.

Es ist eine starke Szene, mit der Johan Theorin seinen Roman "Öland" beginnt. Das Kind und der Riese, das schwingt perfekt zwischen Märchen und Thriller.

Doch das Erstaunliche und Faszinierende ist, dass Theorins spannende und komplexe Erzählung wie der naturgewaltige Nebel aus dem Innern der Inselgeschichte zu dringen scheint. Johan Theorin, ein hagerer Mittvierziger, dem man die Halbmarathonstrecke, die er regelmäßig im heimatlichen Göteborg läuft, an den hageren Gesichtszügen abliest, hat sie aus seinen Kindheitserinnerungen geschöpft.


Mütterlicherseits stammt seine Familie von Öland, und auf dem Friedhof von Föra, einem Kirchspiel im Nordteil der Insel, kann man ihre Grabsteine sehen: Gerlofssons in Reihen.

Bei den Großeltern Gerlofsson verbrachte Johan Theorin die Sommerferien. Hier lernte er, das Mäuerchen zu übersteigen und mit seinen Freunden so lange in der Alvar herumzustromern, bis sie nicht mehr wussten, wo unter dem weiten Himmel ihr Zuhause war.

Die Alvar, das ist die Öland bestimmende karge Steppenlandschaft aus Wacholder und anderem Heidegestrüpp, das auf dem harten Boden wachsen kann. Viele Steine gab es und manchmal Fisch – so war das Leben auf Öland, bevor 1972 mit dem Bau der Ölandbrücke zwischen Insel und Festland der Tourismusboom einsetzte.


Nils Kant, der Mann, der den kleinen Jens an die Hand genommen hat, ist einer jener Grobiane, die sich nicht beherrschen können und zuschlagen, statt zu reden oder zu denken. Als Erbe einer reichen Familie fühlt er sich allen überlegen. Er prügelt und wütet, am liebsten ist er allein und durchstreift die menschenleere Heide der Alvar.

Im Krieg stößt er auf zwei deutsche Deserteure, die einen kleinen Schatz mit Diamanten über die Ostsee gerettet haben, erschießt sie aus Angst und erschießt auch, schon auf der Flucht, den Polizeikommissar, der ihn vernehmen will. Unperson seit jeher, durchschwimmt Nils Kant die Meerenge zum Festland und verschwindet irgendwo auf den Weltmeeren.

Die Geschichte von Nils Kant beginnt in den 30er-Jahren. Theorin dient sie als weit gedehnter Spannungsbogen und als Rückgrat einer großen Öland-Erzählung, die zurückführt in jene Vergangenheit, als die meisten Bewohner der Insel davon lebten, Kalkstein zu brechen und zu verschiffen. Noch Theorins Großvater transportierte in den 50er-Jahren als Kapitän eines Lastenseglers Ölandstein nach Stockholm.


Diesem Großvater ist der 80-jährige Held des Romans nachempfunden. Gerlof Davidsson sitzt, knurrig, aber völlig klar im Kopf, nur behindert durch seine Arthrose, im Altenheim und grämt sich immer noch. Denn der kleine Jens ist verschwunden geblieben.

Seit 20 Jahren ist das Rätsel ungelöst, seine Mutter glaubt, er lebe noch. Doch jetzt wird Gerlof mit der Post ein Kinderschuh zugesandt. Als er ihn als Sandale des verschollenen Enkels erkennt, beginnt der Alte zu ermitteln, unterstützt von der vom Festland herübergekommenen Mutter des Kindes und einem alten Freund, der bald unter verdächtigen Umständen zu Tode kommt.

Gerüchte werden wieder wach, um Nils Kant, um seinen Tod, um die Leiche, die zehn Jahre vor dem Verschwinden des Jungen aus Lateinamerika herübergebracht und unter dem Namen Kant beerdigt wurde.


Fünf Jahre hat Theorin, der damals seinen Unterhalt als Journalist verdiente, an diesem Seefahrer- und Öland-, Familien- und Geisterroman geschrieben, der auch ein großartiger Thriller ist. "Skumtimmen" – Schattenstunde – nennt man in Öland die Dämmerung, in der man sich zusammensetzte und Geschichten erzählte. So lautet auch der schwedische Titel des Romans.

Er ist getränkt von den Orten, Geschichten und Personen dieses Insellands, dessen Magie Johan Theorin mit unverwechselbarer Stimme in Erinnerung ruft. Einen weiteren Roman mit Gerlof, dem merkwürdigsten aller unbeweglichen Detektive, hat Theorin bereits abgeschlossen.

Wieder kommen zwei Elemente zusammen, von denen man bisher in der Kriminalliteratur nichts gelesen hat: das karge Öland und die – manchmal nörgelnde – Skepsis des Alters.


TEXT: TOBIAS GOHLIS für Seite 4


Johan Theorin: Öland.
Aus dem Schwedischen
von Kerstin Schöps

448 Seiten

Share and Enjoy:
  • Print
  • Digg
  • Sphinn
  • del.icio.us
  • Yahoo! Bookmarks
  • Facebook
  • Mixx
  • Google Bookmarks
  • Blogplay
  • LinkedIn
  • StumbleUpon
  • Twitter
  • RSS

Kommentar verfassen

Connect with Facebook

Leseprobe

Related Posts

  • No Related Post