Der Egomane

admin | Posted 16/10/2008 | Autoren | Keine Kommentare »

Der neue Memoirenband von Günter Grass ist unaufgeregt. Und – im Vergleich zumersten Teil – auch inhaltlich eher unspektakulär.

Nach der SS-Vergangenheit ist die Familie dran: Günter Grass setzt
seine Autobiografie fort. WP-Kulturchef Andreas Thiemann stellt den
neuen Band vor.

"Die Box" heißt das neue Buch, in dem der Literaturnobelpreisträger vornehmlich die Beziehung zu seinen acht Kindern zwischen 1959 und 1999 thematisiert.

Wir erinnern uns: Vor zwei Jahren, im Sommer 2006, verursachte sein knapp 500 Seiten mächtiges Werk "Beim Häuten der Zwiebel" einen Sturm der feuilletonistischen Entrüstung und politischen Empörung.

Günter Grass, über sechs Nachkriegsjahrzehnte hinweg eine mehr oder weniger selbst ernannte moralische Institution bundesdeutscher Be- und Empfindlichkeiten, überraschte die Öffentlichkeit mit seinem Geständnis, selbst kurze Zeit freiwilliges Mitglied der Waffen-SS gewesen zu sein.

Der kulturpolitische Aufschrei gewann damals geradezu hysterische Züge. Grass, das penetrant schlechte Gewissen der Gesellschaft, hatte sich selbst enttarnt, entlarvt und in den Augen seiner hämischen Kritiker zutiefst und unumkehrbar unglaubwürdig gemacht.

Nun meldet sich der Geschmähte unverdrossen zurück.

"Weil immer noch was in ihm tickt, das abgearbeitet werden muss, solang er noch da ist", wie der inzwischen fast 81-Jährige selbst über sich in der dritten Person schreibt.

Auf die ehemals verletzende und oft auf gnadenlose Zerstörung und Vernichtung ausgerichtete Polit-Schelte nimmt Grass allerdings klugerweise so gut wie gar nicht Bezug.

Er möchte wohl nicht weiteres Öl ins Feuer gießen, und so belässt er es mit ein paar Seitenhieben auf seine Kritiker, die ihn ohnehin sein ganzes schriftstellerisches Leben lang hartnäckig begleitet hätten und doch seinen Erfolg niemals schmälern konnten, wie er ein wenig süffisant im Buch anmerkt.

Nein, Grass keilt dieses Mal nicht schnauzbärtig aus, er gibt sich vielmehr als ein fast reumütiger Familienvater. Aus der Sicht seiner acht Kinder, zu denen vier verschiedene Mütter gehören, lässt er sich in seiner Vaterrolle rückblickend beurteilen.

Und er kommt nicht gut dabei weg. Mögen sie ihn auch zärtlich "Väterchen" oder "Vatti" nennen, der Groll, die Wut und auch die Enttäuschung über den egoistischen Patriarchen wiegt schwer und wird offenbar immer gewichtig im Grass-Clan verankert und erinnert bleiben.

Es sind teils halb verkorkste, halb gelungene Lebensentwürfe, die die Kinder im Schatten des schier übermächtigen Vaters umgesetzt haben.

Der wiederum sprang von Termin zu Termin, von Frau zu Frau, baute Patchwork-Familien, ließ sie wieder fallen und folgte doch immer nur der eigenen, egomanischen Spur.

Das zu lesen, in dieser unverblümten Offenheit, nimmt sich wie ein sehr privates Vermächtnis gegenüber den eigenen Nachgeborenen aus;
Wunden vermag es offenkundig nicht zu heilen.


Günter Grass schildert dies alles in seiner typischen Poesie-Sprache: "Es war einmal ein Vater, der rief, weil alt geworden, seine Söhne und Töchter zusammen – vier, fünf, sechs, acht an der Zahl -, bis sie sich nach langem Zögern seinem Wunsch fügten."

Dem märchenhaften Stilansatz setzt er eine genial anmutende Idee obenauf. Er bringt einen alten Fotoapparat ins Spiel, eben jene titelgebende "Box".

Diese denkbar einfache, längst überholte Kamera zaubert nun die merkwürdigsten Bilder zu Tage. Sie begleitet das Familien- wie das
Berufsgeschehen, kennt keine technischen Probleme und meistert jede Situation.

Mehr noch. Die Box hält nicht nur die vergangene Wirklichkeit in immer neuen Bildern fest, sie kann auch in die Zukunft schauen, Träume und Ängste auf geheimnisvolle Weise sichtbar machen.

Wo andere Autoren einen magischen Realismus erzeugen, bildet Grass durch diesen Kunstgriff so etwas wie eine magische Poesie heraus,
die dem Buch eine gewisse Leichtigkeit verleiht, einen leisen Humor transportiert und die harte, vielleicht sogar mitunter unbarmherzige Familiengeschichte sanft abfedern hilft.


RABENVATER

Grass lässt die Box von Mariechen bedienen. "Knips mal, Mariechen", heißt es immer wieder, und so hat der verschrobene Schriftsteller es wohl auch häufig im wirklichen Leben gefordert.

Denn Mariechen war in Wirklichkeit die Fotografin Maria Rama, die für die Familie Grass zeitlebens ein wandelndes, stets präsentes Fotoalbum
war.

1997 starb sie, und das Buch lässt die Vermutung offen, dass sie die (mindestens) fünfte Frau in Grass’ Leben war. Immerhin hat er ihr dieses Buch ausdrücklich gewidmet; auch das nährt entsprechende Vermutungen.

Günter Grass lässt in seinem neuen Buch die eigenen Kinder gleichsam Gericht über den Vater halten. "Beteuerte Liebe, aber auch Vorwürfe, die schon seit längerer Zeit vorrätig lagern", arbeitet der Familienfürst ohne sonderliche Zerknirschung ein.

Den eigenen Kindern ist es in der Vergangenheit kaum anders ergangen als den Lesern und Kritikern von Günter Grass.

Ein schier unbeugsames und wohl auch unbelehrbares Selbstbewusstsein prägte stets seinen Charakter und seine Entscheidungen. An einer Stelle lässt Grass seine (geliebte?) Marie über einen Grass-Sohn herausplatzen: "Du bist genau so ein Rabenaas wie dein Herr Vater. Immer nur ichichich! Der andere darf in die Röhre gucken."

Text: Andreas Thiemann für die Printausgabe von Seite 4

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