Überlebenstraining
admin | Posted 20/10/2008 | Autoren | Keine Kommentare »
Weisheit ist kein Luxusgut für weltferne Sinnsucher. Wir brauchen sie
dringend, sagt 3sat-Moderator Gert Scobel: im individuellen Alltag
ebenso wie in der Politik.
Herr Scobel, Sie sagen, dass uns Weisheit fehlt. Dabei wird unsere Gesellschaft immer älter. Sollte es also nicht doch mehr Weisheit geben?
Tatsächlich ist der einzige positive Aspekt, der regelmäßig im Zusammenhang mit dem Alter genannt wird, der der Weisheit. Aber anzunehmen, Alter führe automatisch zu Weisheit, ist natürlich Unsinn.
Weise wird man im Alter nur, wenn man Weisheit vorher kultiviert und auch trainiert hat. Psychologische Untersuchungen zeigen, dass die grundlegenden Strukturen von Weisheit ungefähr mit Abschluss des 30. Lebensjahres angelegt sind.
Kann man Weisheit trainieren?
Ich behaupte ja – und befinde mich dabei in bester Gesellschaft. Einer von mehreren klassischen Wegen, Weisheit zu trainieren, ist in fast allen Traditionen und Kulturen die Meditation im weitesten Sinn. Interessanterweise haben die Neurowissenschaften gerade begonnen, die Wirkungen von Meditation zu erforschen.
Wollen Sie uns also in die esoterische Ecke locken?
Nein, im Gegenteil. Ich will Weisheit aus der esoterischen Ecke herausholen, weil ich glaube, dass man Weisheit dort nicht unbedingt findet.
Ich glaube auch nicht, dass Weisheit ein rein philosophisches Problem ist, obwohl die philosophoi ja, wörtlich übersetzt, die Weisheitsliebenden waren. Ich glaube vielmehr, dass Weisheit vor allem eine lebenspraktische, geradezu alltägliche Dimension hat – und zugleich ungeheuer viel mit moderner Wissenschaft zu tun hat.
Denn weise Menschen zeichnen sich durch einen angemessenen Umgang mit der Komplexität unserer Welt aus.
Was Komplexität ist, beginnen die Naturwissenschaften gerade erst zu verstehen. Untersuchungen zeigen, dass wir Menschen leider nicht besonders gut sind im Meistern von Komplexität. Genau darin besser zu werden, lehrt Weisheit.
Wie sieht weises Handeln aus?
Weise Entscheidungen sind beispielsweise darauf angelegt, nachhaltig zu sein. Sie sind keine typischen Managerentscheidungen,
die ich jetzt treffe, um sie dann möglichst morgen schon wieder zu revidieren.
Sondern es sind Entscheidungen, die auf lange Sicht hin ihren Wert behalten und uns zu "mehr Leben" führen sollen. Weisheit ist, im besten Sinn, Überlebenstraining.
Meditation ist das eine, wofür Sie plädieren, die Auseinandersetzung mit Weisheitstraditionen das andere. Wie aber können jahrhundertealte Traditionen uns bei unseren aktuellen Problemen helfen?
Wir suchen nach Wissen, haben aber oft keine Vorstellung, wie wir mit der sich daraus ergebenden unendlichen Informationsvielfalt umgehen sollen. Die Weisheitstraditionen können uns Orientierung geben – diesseits von Moral und Religion. Wir schwanken bei politischen und moralischen Fragen zwischen Polen hin und her, zwischen gut und böse, rechts und links.
Wir denken ständig in Polaritäten. Das Leben besteht aber immer aus beidem. Es spielt sich "zwischen den Polen" ab. Die Weisheitstraditionen bieten erprobte Wege an, mit den Widersprüchen besser umzugehen und im "Dazwischen" zu leben. Denn Weisheit ist die Kunst, die Mitte zu finden.
Sie sehen Meditation und die Suche nach Weisheit also nicht als Luxusangelegenheit derjenigen, die sonst schon alles haben und jetzt dann mal nach dem Sinn des Lebens suchen.
Es geht, pathetisch gesagt, auch um den "Sinn des Lebens". Und der ist für niemanden eine Luxusangelegenheit, selbst wenn es so scheint. Es geht dabei um etwas Fundamentales: darum, wie wir mit unserer Endlichkeit, mit der festen Aussicht auf den Tod umgehen.
Es geht um Glück – ich glaube, dass Glück sehr viel mit Weisheit zu tun hat. Es geht aber eben auch um das Überleben. Denn Weisheit zu fördern, ist ebenso eine individuelle wie eine gesellschaftlich-kulturelle Aufgabe.
Wenn man sich das Buch "Kollaps. Warum Gesellschaften überleben oder untergehen" von Jared Diamond anschaut, findet man immer dasselbe Muster:
Gesellschaften sind untergegangen, weil sie mit neuen Herausforderungen und mit Komplexität nicht umgehen konnten. Sie waren nicht weise.
Wenn man es anders machen will – wann sollte man mit Meditation beginnen?
Am besten schon in der Schule. Natürlich nicht benotet. Würden Sie Noten vergeben wollen dafür, dass man zu atmen lernt? Ebenso muss man eben lernen, mit seinem Geist umzugehen, mit seinen Gefühlen, mit Trauer, mit der Tatsache, dass wir alle sterben werden.
Dabei gibt es positive Nebeneffekte, zum Beispiel, dass man sich besser konzentrieren kann.
Sie selbst betreiben Zen-Meditation. Ist es das, wofür Sie auch an Schulen plädieren?
Nein, gerade an der Schule sollte das völlig weltanschauungsfrei sein. Es geht nicht darum, buddhistische Philosophie zu unterrichten. Was ich meine, ist ein Achtsamkeitstraining, vielleicht auch so etwas wie autogenes Training oder Yoga. In England hat man damit sehr gute Erfahrungen gemacht. Und auch bei uns versuchen es jetzt die ersten Schulen – sehr erfolgreich, wie die Studien zeigen.
Weisheit für Kinder
In seinem neuen Kinderbuch "Wie Niklas ins Herz der Welt geriet" erzählt Gert Scobel von einem Jungen, der über den Tod seines Hundes nicht hinwegkommt:
Nichts macht ihm mehr richtig Spaß, alles ist in Traurigkeit eingehüllt. Bis er im Park einen Mann kennen lernt, der seine Frau verloren hat – und mit dem er über seine Trauer sprechen kann. Es ist ein sehr schönes Kinderbuch mit Illustrationen von Ayano Imai, das die Ernsthaftigkeit vieler Kinder und ihren Wunsch nach mehr als Zerstreuung respektiert.
Wie Niklas ins Herz der Welt geriet von Gert Scobel, Berlin Verlag, ISBN: 978-3-827-05319-0
Gert Scobel gehört zu den erfolgreichsten Kulturjournalisten des deutschen Fernsehens. 2005 wurde er für die Moderation und Redaktion der 3sat-Sendungen "Kulturzeit" und "Delta" mit dem Adolf-Grimme-Preis ausgezeichnet.
Seit April 2008 moderiert er auf 3sat die Sendung "scobel". Er ist mit Susanne Fröhlich ("Moppel-Ich") verheiratet und hat zwei Kinder.