Seemannsgarn
admin | Posted 27/12/2008 | Belletristik | Keine Kommentare »
Carsten Jensen und Dörthe Binkert erzählen vom Leben auf See. In beiden Romanen geht es um die Sehnsucht nach Freiheit und den Aufbruch in ein anderes Leben.
Heute ist Marstal, ein kleiner Ort auf der Insel Aero, ein Seglerparadies. Es ist ein verträumtes, idyllisches Städtchen mit alten Häusern, in denen die Zeit stehen geblieben zu sein scheint.
Es wirkt so, als ob gleich einer der Seebären, von denen Carsten Jensen in seinem Roman "Wir Ertrunkenen" erzählt, um die nächste
Straßenecke biegt. Der Roman beginnt 1848 und endet 1945.
Dazwischen liegt die große Zeit Marstals, als der kleine Ort mit 346 registrierten Segelschiffen nach Kopenhagen das zweitgrößte Schifffahrtszentrum Dänemarks war.
Von diesem Ort erzählt Jensen und von seinen Einwohnern. Insbesondere von den Männern, die auf allen Weltmeeren zuhause waren.
Viele kamen irgendwann einmal nicht zurück, weil nun auch ihr Schiff untergegangen war.
Aber nicht alle, die nicht wieder auftauchten, waren tot.
Laurids Madsen ist verschwunden. Aber sein Sohn Albert glaubt nicht, dass er ertrunken ist, und macht sich auf die Suche nach ihm.
Es ist mitten im 19. Jahrhundert und noch nicht allzu lange her, dass James Cook sich zu seinen Weltreisen aufgemacht hatte. Der
von Kannibalen zugerichtete Schrumpfkopf des Entdeckers fällt in Alberts Hände und wird zu einer Art Talisman für ihn, als er seinem Vater nachreist.
Er hat nicht viele Anhaltspunkte, findet ihn aber doch: im Südseeparadies Samoa. Hier lebt er mit einer Eingeborenen zusammen und ist meist benebelt vom Palmwein.
Alberts Suche nach seinem verlorenen Vater und das enttäuschende Wiedersehen ist eine von – so scheint es – unendlich vielen Geschichten des Romans "Wir Ertrunkenen", und sie ist typisch für Jensens Geschichten.
Sie ist spannend erzählt, hat Tiefgang, ist mit etwas Seemannsgarn drapiert und doch realistisch genug, die Mühsal und Gefahren des Seefahrerlebens deutlich zu machen: Stürme, bedrückende Flauten, brutale Matrosen und die Enge an Bord. Aber auch das Schöne und Befreiende, die Weite des Horizonts wird spürbar.
Jensens Geschichten sind zum Teil authentisch und zum Teil
erfunden. "Mein Personal gab es in der Geschichte Marstals so nicht,
aber es gibt viele Menschen, in denen ein bisschen von ihrer Geschichte
steckt", sagt der 56-jährige Autor, der in Kopenhagen lebt, aber in Marstal aufgewachsen ist.
Er
hat im Archiv des Seefahrtsmuseums recherchiert und Marstaler nach
ihren Erinnerungen gefragt. Eine wichtige Quelle war sein Vater, der
von seinem 14. bis zu seinem 69. Lebensjahr zur See fuhr – "und der ein
großartiger Erzähler war".
Das ist auch der Sohn: Seine
Geschichten über das Meer und die Sehnsucht nach Freiheit und Aufbruch
erzählt Jensen so gut, dass man sich auf keiner einzigen der immerhin
fast 800 Seiten langweilt.
Von den Marstalern und ihren Schicksalen kann man nicht genug bekommen.
Um die Sehnsucht nach Freiheit und Aufbruch geht es auch in Dörthe Binkerts Roman über eine Atlantikpassage.
Dörthe Binkert © Matthias Mettner
Am
23. Juli 1904 legte die Kroonland in Antwerpen mit Ziel New York ab. An
Bord waren die reichen Passagiere der ersten Klasse, arme Auswanderer,
die auf ein besseres Leben in der neuen Welt hofften – und ein blinder
Passagier: eine schöne junge Frau in einem eleganten Abendkleid aus weißer Seide.
Gepäck hatte sie nicht dabei, auch kein Geld und keine Papiere. Diesen blinden Passagier gab es tatsächlich.
Die
Frau im weißen Abendkleid erregte viel Aufsehen, und Dörthe Binkert hat
von ihr aus einem Artikel der New York Times vom 3. August 1904
erfahren.
Nicht bekannt ist aber, wer sie war, warum sie ohne Ticket den Atlantik überquerte und was aus ihr geworden ist.
Das hat Dörthe Binkert sich ausgedacht.
Es ist eine spannende, bewegende Geschichte geworden, in der sie auch das schwierige, weit gehend rechtlose Leben von Frauen zu Beginn des 20. Jahrhunderts zur Sprache bringt.
Und zeigt, wie gefährdet es war, vor allem durch Männer, die rücksichtslos ausnutzten, dass sie in wesentlich besseren Positionen als die Frauen waren.
Valentina heißt die Dame in Weiß bei Dörthe Binkert.
Sie trauert um ihren kleinen Sohn, ist in ihrer Trauer erstarrt und hat sich von ihrem Mann, einem zu Geld gekommenen Diamantenhändler aus Russland, entfremdet. Am 23. Juli 1904, dem zweiten Todestag ihres Sohnes, hat er sie gezwungen, in ihrem weißen Kleid an einer Gesellschaft teilzunehmen.
"Weit übers Meer" von Dörthe Binkert, dtv, ISBN-13: 978-3-423-24693-4, 14,90