Mehr als «Der Vorleser»
Petra Bohm | Posted 01/07/2009 | Autoren | Keine Kommentare »
Bernhard Schlink wird 65
Bei der Berlinale gab es stürmischen Beifall und eine vor Rührung schniefende Kate Winslet. Dann bekam Winslet für ihre Rolle in «Der Vorleser» auch noch den Oscar. Der Film ist bisher der Höhepunkt im Werdegang des deutschen Bestsellers. Er handelt von der Liebe zwischen einem 15 Jahre alten Jungen und einer deutlich älteren Straßenbahnschaffnerin, die später als ehemalige KZ- Aufseherin vor Gericht steht. Bernhard Schlinks millionenfach verkauftes Buch ist Schullektüre und zugleich umstritten wie nur wenige Romane. Am 6. Juli wird Schlink, Schriftsteller, Jurist und Essayist, 65 Jahre alt.
«Holokitsch» ist «Der Vorleser» für die einen, die nicht nachvollziehen können, warum man Mitleid für die Täterin Hanna Schmitz haben soll – nur weil sie Analphabetin ist? Ein sensibler Blick auf Schuld und Sühne, eine zu Herzen gehende Geschichte ist das Buch für die anderen, die es gerne gelesen haben.
Vom Erfolg her ist es nur mit Patrick Süskinds «Das Parfüm» zu vergleichen. Dank der einflussreichen US-Moderatorin Oprah Winfrey wurde «The Reader» auch in Amerika ein Stapeltitel in den Buchhandlungen und landete auf Platz 1 der «New York Times»- Bestsellerliste. Das hat vorher noch kein deutsches Buch geschafft.
Schlink, der in Bielefeld geboren wurde und in einem protestantischen Pfarrhaus in Heidelberg aufwuchs, hat gleich zwei bemerkenswerte Karrieren gemacht. Er studierte Jura (wie das «Jungchen» in «Der Vorleser») in Berlin und Heidelberg. Nach Stationen in Bonn und Frankfurt wurde er 1992 Professor an der Humboldt-Universität, die ihn gerade in den Ruhestand verabschiedet hat. Schlink lebt in Berlin und New York, wo er seinen Geburtstag feiern will.
«Ein Bein in der Wirklichkeit»
Nach dem Mauerfall 1989 arbeitete Schlink am runden Tisch an der Übergangsverfassung für die DDR mit; von 1988 bis 2005 war er Richter am Verfassungsgerichtshof für das Land Nordrhein-Westfalen in Münster. Im Verfahren um die Auflösung des Bundestages vertrat der Jurist 2005 Kanzler Gerhard Schröder. Als Krimischriftsteller trat Schlink von 1987 an mit der «Selbs»-Trilogie in Erscheinung. In «Der Vorleser» wechselte er 1995 das Genre.
Seine Fans mögen ihn für seinen angelsächsischen Erzählton. Schlink ist literarisch und zugleich unterhaltsam, ein Musterautor für die Linie des Diogenes-Verlages, dem er bis heute treugeblieben ist. Vom Jahrgang ist Schlink ein «68er». Er passt aber wegen seines eher zurückhaltenden Auftretens nicht in diese Schublade, auch wenn in seinem Werk die Aufarbeitung der Vergangenheit ein zentrales Thema ist. Über seine Doppelkarriere sagte er einmal in einem Interview: «Ein Bein in der Wirklichkeit von Uni und Gericht zu haben, tut mir gut.»
Auch «Die Heimkehr» wird verfilmt
Nach dem Erzählband «Liebesfluchten» veröffentlichte Schlink 2006 den Roman «Die Heimkehr», der von der Familie eines Kriegsheimkehrers und von der Vater- und Selbstfindungssuche handelt. Die Kritik war meist nicht begeistert. Ein «Buch des Grauens», fand die «Frankfurter Allgemeine Zeitung». Das Echo auf «Das Wochenende» (2008) war etwas besser. Darin geht es um einen RAF-Terroristen, der vom Bundespräsidenten begnadigt wird, was an die Debatte um Christian Klar erinnert. Derzeit arbeitet Schlink an einem neuen Band mit Erzählungen. Außerdem soll «Die Heimkehr» verfilmt werden, Regisseur ist Jan Schütte. Schlink will das Drehbuch selbst schreiben.
Seit Februar besitzt das Deutsche Literaturarchiv in Marbach das Originalmanuskript zum «Vorleser». Seine Manuskripte zu «Die gordische Schleife» oder «Liebesfluchten» können ebenfalls dort erforscht werden. In den Kanon der deutschen Literatur hat es Schlink geschafft, auch wenn das nicht allen Kritikern gefällt.
© Caroline Bock, dpa