Neue Novelle von Siegfried Lenz
Petra Bohm | Posted 19/09/2009 | Autoren, Belletristik | Keine Kommentare »
Rätselhafte Dinge geschehen im Gefängnis Isenbüttel. Während einer Theateraufführung verlassen Häftlinge ungehindert das Gelände…
Berührend, humorvoll, lebensweise: In seiner neuen Novelle «Landesbühne», die am Mittwoch (23.9.) in den Buchhandel kommt, bündelt Siegfried Lenz die ihn sein Schriftstellerleben lang auszeichnenden Eigenschaften. Der 83-Jährige hat ein vom Umfang her kleines Buch geschrieben, das jedoch wie die Summe seiner von Nazi-Diktatur, Weltkrieg und Heimatverlust belasteten Lebenssicht wirkt. Es ist ein literarisches Bekenntnis zu Menschlichkeit und Herzenswärme als Schlüssel für ein gelingendes, sinnerfülltes Leben – allen Widrigkeiten und Schicksalsschlägen zum Trotz.
Jenseits aller Religionen und Ideologien, deren Versprechen nicht nachprüfbar oder gescheitert sind, setzt Lenz auf Freundschaft und Gemeinschaft. Und auf die aufklärerische wie lebenspendende Kraft von Kultur, von Theater, Tanz und Literatur. Das Buch ist ein Bekenntnis zur philosophischen Richtung des Existenzialismus. So lässt Lenz in seinem Werk die Titel gebende Landesbühne von Samuel Becketts existenzialistischem Klassiker «Warten auf Godot» im Gefängnis aufführen – und einer der Protagonisten der Novelle, der Gefangene Hannes, sagt emotional aufgewühlt: «Der Mann, der das geschrieben hat, wußte alles über mich, und wußte, was warten heißt ohne Hoffnung(…). Die Trauer ist die innigste Verbindung mit einem Menschen, die gemeinsame Trauer.»
Lebensphilosophie allein macht kein gutes Buch. Als Handlungsrahmen hat sich Lenz, der humorvolle Erzähler («So zärtlich war Suleyken»), diesmal ein nahezu fantastisches Schelmenstück ausgedacht: In einem Gefängnis in der norddeutschen Provinz sitzen Kleinkriminelle, die da eigentlich gar nicht hingehören. Ein Bauchredner, der alte Damen finanziell betrog, oder Bolzahn, ein Heiratsschwindler. Die beiden Hauptprotagonisten sind jedoch Hannes und Clemens: Der vermeintliche Polizist, der Autos anhielt und Bußgelder kassierte. Und der Professor mit dem Spezialgebiet Sturm und Drang, der angeblich seine Studentinnen vor den gut bestandenen Examina nächtens zu Hause hatte – ein Vorwurf, der sich aber am Ende als falsch herausstellen wird.
Insgesamt ein Dutzend Gefangene entkommt mit dem Bus der Landesbühne, die in der Haftanstalt ein Gastspiel gibt, ohne jede Gewalt. Im fiktiven schleswig-holsteinischen Ort Grünau hält man die Truppe fürs erwartete Ensemble der Landesbühne. Die Gefangenen werden hofiert, es werden Feste gefeiert, Pläne für eine kulturelle Entwicklung der Stadt geschmiedet. Und die Gefangenen blühen auf, bringen sich ein, genießen das Leben. Irgendwann fliegt die Sache auf, die Gefangene landen wieder im Knast, Depression, ein Selbstmord. Dann erneut ein Gastspiel der Landesbühne im Gefängnis, symbolträchtig mit «Warten auf Godot». Wie die beiden Landstreicher Wladimir und Estragon vergeblich auf Godot – von vielen Kritikern als Gott gedeutet – warten, so fehlt den Gefangenen die Lebensperspektive und der Lebenssinn.
Lenz entwirft immer wieder berührende Bilder, die eine Antwort weisen können. So lässt er Hannes den Baum, der die Dekoration des Stücks war, in seine Zelle bringen. Und gemeinsam bringen Hannes und sein Zellenkumpane Clemens jene Holzblätter, die ihnen von irgendjemandem zugeschickt wurden, an dem Baum an. Für Beckett dürfte es der Lebensbaum oder als biblisches Motiv der Baum der Erkenntnis gewesen sein. Und so reift bei Hannes am Ende die eine und andere Einsicht. Er verwirft den Plan, erneut auszubrechen und bleibt bei Clemens: Jeder muss etwas aushalten, ertragen – «Mit Dir ist es leichter, alles hier.» Und so stoßen die Protagonisten am Ende mit einem Glas an. Worauf? «Auf unser Zusammensein, Hannes, nur darauf», sagt Clemens, der Professor.
Selten hat Lenz so erkennbar religiöse Motive in ein Buch eingebracht wie in die Landesbühne, die auch Chiffre für die Bühne des Lebens ist. Die existenzialistische Sicht des Schriftstellers ist eindeutig. Fast sarkastisch lässt er die Gefangenen als erstes Lied nach ihrem gelungenen Ausbruch auf der Bühne «Wem Gott will rechte Gunst erweisen, den schickt er in die Weite Welt» singen – «nicht hoffnungsvoll oder tröstend, sondern fordernd und erwartungsvoll». Später beim Stadtfest tragen sie das Lied wieder vor, «und da sie bei dem Wort “Gott” das Blitzlicht traf, bildeten ihre Münder ein ebenmäßiges, dunkles Loch». Im Gespräch auf seine Sicht zu Religion und Gott angesprochen, antwortet Lenz wortkarg, bezeichnet sich selber als «schicksalsgläubig».
In der «Landesbühne» finden sich wie im Zeitraffer auch jene Themen wieder, die Lenz in seinem Werk immer wieder bearbeitet hat: Ein problematischer Pflichtbegriff und die Bedeutung der Vergangenheit für die Gegenwart, die Wirkkraft der Fantasie fürs Leben. Lenz findet immer wieder seinen typischen Schreibstil, eine humorvolle Sicht auf das Leben, durchwirkt von Lebensweisheiten. Dass die Novelle zunächst als leichtes Schelmenstück daherkommt und die literarische Ausarbeitung der Figuren und Szenen knapp gerät, muss kein Nachteil sein. So gelingt dem großen alten Schriftsteller die Konzentration auf das ihm Wesentliche.
© Matthias Hoenig/dpa