“Die Sache mit Tom” von Rüdiger von Fritsch

Petra Bohm | Posted 09/01/2010 | Biografien | Keine Kommentare »

Fast zu spannend, um wahr zu sein…

Als die Schüsse fallen, wacht Rüdiger auf. Er hat von seiner Hinrichtung durch Grenzsoldaten geträumt. «Die Sache mit Tom» quält den 20-Jährigen: Er organisiert die Flucht seines Cousins aus der DDR. Im gleichnamigen Buch schildert der Diplomat Rüdiger von Fritsch, Abteilungsleiter im Auswärtigen Amt in Berlin, diese innerdeutsche Flucht im Sommer 1974. Fritsch schreibt eindrucksvoll, er lässt den Leser an allem teilhaben: der ersten Kontaktaufnahme mit seinem Cousin Tom, den monatelangen Vorbereitungen, der Flucht selbst und auch an seinen Gefühlen – dem Nervenkitzel, dem Alleinsein und der Angst.

Die Angst am Grenzübergang in Bulgarien beispielsweise. Rüdiger und sein Bruder Burkhard haben gefälschte Pässe für Tom und dessen zwei Freunde dabei. Tom, Bernd und Maximilian warten an der Schwarzmeerküste auf die Brüder. Mit den gefälschten Pässen sollen die DDR-Bürger als westdeutsche Hippies von Bulgarien in die Türkei reisen, von dort in die «BRD», in die Freiheit.

Die Angst ist unbegründet, die beiden Fluchthelfer passieren die bulgarische Grenze ohne Kontrolle. Die Freude ist groß. Bis Rüdiger in seinen Pass blickt und feststellt, dass die Farbe der Stempel geändert wurde. Die gefälschten Pässe sind wertlos, «alles umsonst». Doch die Geschwister versuchen es erneut, denn es steht für sie nie in Frage, dem Vetter zu helfen.

«Die Sache mit Tom» ist keine oberflächliche Nacherzählung der Flucht. Rüdiger von Fritsch erläutert auch die Rahmenbedingungen ausführlich, schreibt über die damaligen politischen Gegebenheiten und historische Ereignisse: Brandts Rücktritt, die Fußball-WM \’74, die Entwicklung der Beziehungen zwischen der Bundesrepublik und der DDR. Anhand von Zeitungsschlagzeilen verdeutlicht er die Gefahr für alle Beteiligten: «Wieder Fluchtversuch gescheitert», «Neun Jahre Haft für Fluchthelfer», «Schüsse an der Mauer».

Auch seine eigene Biografie schildert Fritsch. Beispielsweise die Schulzeit im Internat in Salem. Jahre, in denen er Freunde gefunden hat, auf die er sich bei der Fluchthilfe verlassen konnte. Der Diplomat erzählt von seiner Familie. Von der Mutter, die sich Sorgen um ihren angespannten Sohn gemacht hat, die er aber nicht einweihen konnte. Vom Bruder, der sofort bereit war, bei der Aktion zu helfen. Vom Vater, dessen Geschichten stets das gleiche Ende hatten: «Egal wie, es gibt immer einen Weg.»

Die Rückblenden und sachlichen Erläuterungen zum historischen Hintergrund nehmen dem Buch an einigen Stellen die Spannung, begründen jedoch das Handeln von Fritsch, die Hilfe für seinen Cousin. Der Leser versteht, warum für Rüdiger von Fritsch das «ob» nie von Bedeutung war, sondern nur das «wie».

Rüdiger von Fritschs Alptraum ist nicht wahr geworden. Er wurde weder erschossen noch verhaftet. Der 55-jährige Diplomat hat die Geschehnisse so offen niedergeschrieben, dass beim Lesen Nervenkitzel, Mitgefühl und Beklommenheit entstehen. Und anschließend ein bisschen Erleichterung. Über eine geglückte innerdeutsche Flucht und die Tatsache, dass diese seit 20 Jahren nicht mehr nötig ist.
© Monika Röttger/dpa

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