Wie schreiben Sie, Rolf Dobelli?
Books | Posted 17/10/2010 | Autoren, Belletristik | Keine Kommentare »Es ist jedes Mal anders: «Fünfunddreissig», meinen Erstling, schrieb ich frisch von der Leber weg. Ich hatte nicht einmal die Vorstellung, dass das Buch je gedruckt würde. Beim zweiten Roman schwirrte immerhin eine vage Idee im Kopf herum, wie die Geschichte laufen soll. «Himmelreich», das dritte Buch, war eine Impulshandlung – und entstand hauptsächlich im Starbucks in den USA…
Und bei «Massimo Marini»?
Hier wollte ich eine Figur schaffen, die der Leser nie mehr vergisst. Und ich wollte diesen Massimo von seiner Kindheit bis zum reifen Alter Schritt um Schritt entwickeln: seine schüchternen Anfänge, seine Höhenflüge, seine Dummheiten, seine Glanzlichter, die grosse Liebe, an der sein Leben zerbricht. Ausser- dem sollte das Buch, das ich im Kopf hatte, ein Krimi werden. Als Milieu hatte ich mir die Schweiz vorgenommen, und ins Zentrum stellte ich, symbolisch für die Einwanderer aus Italien, den Mythos Gotthard. Technisch und stilistisch sollte der Roman anspruchsvoll sein – ein Roman, wie ich ihn eben selbst gern lesen würde.
Der Respekt vor diesem Vorhaben war so gross, dass ich mich eine Weile lang mit allem Möglichen beschäftigte, um ja nicht beginnen zu müssen. Mir wurde bange, wenn ich nur schon an den leeren Computerbildschirm dachte. Schliesslich zwang ich mich, den Roman anzupacken, in dem ich mir eine Frist setzte.
Also fing ich an. Wie ein Architekt. Ich bestellte eine riesige Wandtafel, die ich in meinem Schreibzimmer montierte. Dort zeichnete ich die verschiedenen Stränge der Geschichte mit Filzstift auf. Ich radierte aus. Zeichnete von neuem. Löschte wieder. Wochenlang so. Ich entwickelte die Charaktere, schrieb Biographien, als hätten sich die Figuren bei mir persönlich zu bewerben. Ich wollte genau wissen, mit wem ich es zu tun hatte. Zwei Mal fuhr ich an die Stollenbrust des Gotthardbasistunnels, dort, wo gebohrt wird. Ich interviewte Mineure, Fremdarbeiter und Bauunternehmer und sprach mit dem Leiter der Fremdenpolizei des Kantons Luzern, um die 1960er- und 1970er-Jahre, die Jugendzeit meines Helden, genau einzufangen.
Schliesslich notierte ich alle Szenen stichwortartig auf Kärtchen und legte diese auf dem Fussboden aus. Ich veränderte die Reihenfolge unendliche Male. So viele Karteikarten lagen auf dem Boden, dass ich es kaum mehr von der Tür zu meinem Schreibtisch schaffte, ohne auf die eine oder andere Szene zu trampen. Zwei Monate waren vergangen. Ich kam mir wie ein Idiot vor – zwei Monate, und noch immer keinen einzigen Satz geschrieben! Doch dann, eines Tages, stimmte die Geschichte, und ich konnte mit dem Schreiben loslegen. Ich pickte die schwierigste Szene heraus und schrieb sie. Dann die zweit- schwierigste. Und so weiter. Bis plötzlich, magisch, der ganze Roman geschrieben war.
Und nun ist er da: «Massimo Marini». Erst jetzt kann ich ihn loslassen, diesen Mann, mit dem ich unzählige Stunden gerungen habe, diesen Mann, der mir ans Herz gewachsen ist.
Interview: books.ch
Am 24. Oktober um 17h liest Rolf Dobelli im Luzerner Theater
Alle Termine auf www.diogenes.ch