Ein Buch über das Leben
Hannah Gi | Posted 15/02/2011 | Uncategorized | Keine Kommentare »„Ich stelle mir Demenz in der mittleren Phase, in der sich mein Vater momentan befindet, ungefähr so vor: Als wäre man aus dem Schlaf gerissen, man weiß nicht, wo man ist, die Dinge kreisen um einen her, Länder, Menschen. Man versucht sich zu orientieren, aber es gelingt nicht. Die Dinge kreisen weiter…“ Arno Geigers neuer Roman nähert sich dem Vater und seiner Erkrankung ohne Scheu und Larmoyanz. Wie Felicitas von Lovenberg in einer Rezension treffend schreibt, ist dies kein Buch über Demenz oder Familienaufstellung und erst recht keine Abrechnung mit dem Vater, sondern eine „tiefgründige, charaktervolle und zeitlos gültig Auseinandersetzung mit dem, was jeden angeht: Alter und Krankheit, Heimat und Familie“.
“„ Willst du nicht aufstehen?” frage ich ihn freundlich. Und um ein wenig Optimismus zu verbreiten, füge ich hinzu: ´Was für ein schönes Leben wir haben`. Skeptisch rappelt er sich hoch. ´Du vielleicht`, sagt er. Ich reiche ihm seine Socken, er betrachtet die Socken ein Weilchen mit hochgezogenen Augenbrauen und sagt dann: ´Wo ist der dritte?`.”
August Geiger ist Anfang siebzig, als sich allererste Anzeichen seiner Erkrankung zeigen, aber sie wird über lange Zeit von seinen Angehörigen nicht wahr genommen. Die Familie glaubt, er reagiere depressiv und antriebslos, weil ihn seine Frau nach über dreißigjähriger Ehe verlassen hat, so dass „alles Merkwürdige zunächst nur ein nachvollziehbares Resultat bestimmter Charaktereigenschaften in Konfrontation mit einer neuen Situation“ zu sein scheint. Ehe der Sohn begreift, wie es um den Vater steht, hält er ihn schließlich für einen „Schwachkopf“ und meidet ihn, wo er kann. Erst von dem Zeitpunkt an, wo die Diagnose Demenz fest steht, nähern sich Vater und Sohn einander wieder an – „da mein Vater nicht mehr über die Brücke in meine Welt gelangen kann, muss ich hinüber zu ihm.“
Arno Geiger schildert das Leben seines Vaters – von der kleinbäuerlichen Kindheit in Wolfurt über Krieg und Gefangenschaft und das lange Leben im heimatlichen Dorf bis zum allmählichen Abgleiten in eine ganz eigene, oft bedrohliche Welt – einfühlsam und humorvoll. Ohne den Vater vorzuführen, denkt er sich in ihn und die Krankheit hinein und findet zusammen mit der Familie einen Umgang, der dem Kranken seine Würde und soweit möglich seinen Seelenfrieden lässt, ja teilweise sogar heitere Momente ermöglicht. Geiger ist dafür kritisiert worden, er zeichne damit ein zu idyllisches Szenario – für mich ist das nicht nachvollziehbar. „Schrecklich ist vor allem, was wir nicht begreifen“ – das ist die Botschaft, die er vermittelt, und die impliziert, dass es einen Zugang zum „alten König in seinem Exil“ gibt, den es zu finden gilt.
Für mich ein absolut empfehlenswertes, lesenswertes Buch.
Am 24.02.2011 um 23.45 Uhr ist Arno Geiger zu Gast bei Literatur im Foyer mit Felicitas von Lovenberg im SRW Fernsehen
Arno Geiger wurde 1968 geboren, lebt in Wien und Wolfurt und erhielt unter anderem den Friedrich Hölderlin-Förderpreis, den Deutschen Buchpreis und den Johan Peter Hebel – Preis.