Leben in der Anderwelt: Apokalypse in Hühnerhof vier

Hannah Gi | Posted 27/04/2011 | Belletristik | Keine Kommentare »

Eins vorweg: hätte ich vorher recherchiert, wie Volodines Vorgängerroman „Dondog“ von der Kritik aufgenommen worden ist, hätte ich mich an den Nachfolger vermutlich gar nicht herangewagt, jedenfalls nicht als Rezensentin. Holger Fock schreibt da zum Beispiel in der NZZ von „Sinnsperrigkeiten“ und „Verstehensproblemen (…) kurz vor dem Bereich ´rezensionsresistent`“. Nicht gerade ermutigend, und doch…

…der Eintritt in die Geschichte Mevlidos, Reinkarnation eines Agenten der „Organe“, eines diffusen Parteiapparats, der die Geschicke der Menschheit nach dem letzten, dem „schwarzen“ Krieg zu lenken versucht, lohnt sich – und wenn es nur der absolut phantastischen Ausmalung einer apokalyptischen Welt wegen ist, deren düsterem Sog man sich kaum entziehen kann.

Vorgestellt wird eine Gesellschaft, in der auf sehr kleinem Raum „business as usual“ stattfindet, Menschen ihren Alltagsgeschäften nachgehen und im Unterschied zu Mevlido gut zurechtkommen im Leben, das für ihn nur ein grauenhafter „Todesflur“ ist. Das Geheimnis der Zufriedenheit dieser Stadtbewohner liegt für Mevlido in ihrer Dummheit und Blindheit, es ist ihm unmöglich, es ihnen gleich zu tun.

Soviel zur Stadt. Der Rest der Menschheit vegetiert in dunklen Ghettos vor sich hin, in denen es von Spinnen, mutierten Hühnern und Vogelmenschen nur so wimmelt. Stellt euch irgendwas zwischen den Bildern von Hieronymus Bosch und dem Film Blade Runner vor, dann habt ihr einen Eindruck von der Atmosphäre, die in „Zone zwei“, „Hühnerhof vier“ und „der Halde“, den Hauptschauplätzen des Buches, herrscht. Wir begegnen dem Hauptdarsteller zuerst bei einer öffentlichen Kritik und Selbstkritik, wie sie vor allem zu Stalins Zeiten en vogue war, die aber hier ins vollkommen Groteske übersteigert wird. Und vor diesem Hintergrund geht die Geschichte auch weiter: Viele Anspielungen auf Bolschewismus, Gulags, „absoluten Kapitalismus“ , ethnische Säuberungswellen, Kindersoldaten und große Kriege, aber Autor und Figuren stehen dem vollkommen indifferent gegenüber, die Parolen sind komplett sinnentleert („belle den Mond an mit den Verirrten“) eine wie auch immer geartete (politische) Botschaft ist diesem Szenario nicht zu entnehmen – sieht man mal von der Aussage ab, die Menschheit sei „trotz der Weltrevolution (…) auf eine Stufe der Barbarei und des Schwachsinns herabgesunken, die selbst Spezialisten erstaunt.“ Diese schmeichelhafte Einschätzung gibt Deeplane, Vorgesetzter und Auftraggeber Mevlidos, über die Hominiden ab, weshalb es auch nicht weiter erstaunt, dass sich gegen Ende des Romans eine Weltherrschaft der Spinnentiere abzeichnet, die von den „Organen“ als die bessere Alternative zum Menschen betrachtet werden. Davor allerdings legen die „Organe“ ein altes Programm neu auf: Die „Abteilung Aktion“, die immer schon Agenten in die Ghettos geschickt hat, um den Überblick und die Kontrolle zu bewahren, will nun einige wenige entsenden, um herauszufinden, „wie man ein etwas friedlicheres Ende der Menschheit herbeiführen könnte.“ Mehr ist nach Einschätzung der „Organe“ leider nicht drin. Für diesen Auftrag wird unter anderen Mevlido ausgewählt, einer derjenigen, die in jahrzehntelangen Trainings auf ihre Aufgaben als Agenten vorbereitete wurden. Sie sollen nun aus dem Ghetto heraus die „Organe“ mit Informationen versorgen, dort leben und wieder sterben, und dann, so das Versprechen, zurückgeholt werden.

Man muss also sterben und wieder geboren werden, um in die Ghettos zu gelangen, und dort wieder sterben. Und der zweite Haken: Die Botschaften, auf die die „Organe“ aus sind, können nur über Träume übermittelt werden, der Wiedergeborene erinnert sich nicht an sein früheres Leben und seinen Auftrag, ihn quälen nur vage Erinnerungen, Visionen und Träume, nichts, das greifbar wäre. Zu Mevlidos Unglück kommt noch hinzu, dass seine Reinkarnation in vielerlei Hinsicht schief geht, die „Organe“ die Kontrolle und schließlich das Interesse verlieren, und er nun als halluzinierender Polizist ein mehr als tristes Dasein in „Hühnerhof vier“ fristet. (Nebenbei muss erwähnt werden, dass es in den Ghettos außerordentlich brutal zugeht, zarter besaitete Leser müssen eventuell einige Szenen überspringen, wenn Menschen ermordet, überfahren und enthauptet oder verbrannt werden.)

In seinen Träumen sieht Mevlido seine vor vielen Jahren ermordete Frau, ohne mit ihr Kontakt aufnehmen zu können, in der Realität hat er eine Beziehung zu einer dem Wahnsinn verfallenen Frau, die ihn wiederum bis auf wenige klare Momente für ihren toten Mann hält. Um dieses Szenario herum baut Volodine eine phantastische Geschichte auf, in der der Leser schon wegen der häufigen Perspektivwechsel bald ebenso den Überblick verliert wie der Held. Darauf muss man sich schon einlassen wollen, sonst funktioniert das Buch nicht – und man verpasst so schöne Szenarien wie dieses: Cornelia Orff, alte Bettlerin und Aktivistin einer untergegangenen „Partei“ mit einem nicht näher gekennzeichneten Programm, lädt Mevlido und seine Gefährtin Maleeya zu einer „Versammlung“ ein, und beide finden keinen Weg, sich zu drücken. So ziehen sie los – „Um zu zeigen, wie gut sie sich in der Stadt auskannte, nahm die Alte heruntergekommene Gassen, die verpissten Unterführungen ähnelten, aber als sie sich dann beinahe selber übergeben musste, besann sie sich darauf, vernünftige Wege zu gehen. Mevlido drückte Maleeyas feuchte Hand und schlurfte missvergnügt einen Meter hinter Cornelia Orff. Als sie auf eine der etwas größeren Verkehrsadern gelangten, forderte die Alte sie auf, sich zu einem Demonstrationszug zu formieren. (…) dann begann sie, Parolen zu rufen. Sie wusste, dass weder Mevlido noch Maleeya Bayarlag einstimmen würden, aber sie war berauscht von der Idee, in der ersten Reihe einer Demonstration zu marschieren, die sie organisiert hatte, und sie drehte sich nicht um, sondern stellte sich lieber die steigende Zahl der Demonstranten vor, die hinter ihr hermarschierten…“.

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Titel:
Mevlidos Träume: Roman

ISBN-13:
9783518422304

Autor:
Antoine Volodine

Verlag:
Suhrkamp Verlag

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