Eine Welt im Umbruch
admin | Posted 18/06/2011 | Belletristik, Orell Füssli, Sachbuch | Keine Kommentare »In vielen arabischen Staaten begehren grosse Teile der Bevölkerung auf. In Büchern arabischer Schriftstellerinnen und Schriftsteller findet man neben literarischen Geschichten auch Gründe für diesen Aufruhr…
Text: Markus Ganz
Die arabische Welt hat die Menschen im Westen stets fasziniert und irritiert. Viele sind hin- und hergerissen zwischen märchenhaften Sagen und simplen Schreckensmeldungen, zwischen «Tausendundeiner Nacht» und Terroranschlägen. Diese Unsicherheit erklärt sich auch mit der Komplexität des arabischen Raums. Er ist trotz der gemeinsamen Sprache eine heterogene Welt, die keine pauschalisierenden Erklärungen und Urteile zulässt. Entsprechend schlecht lässt sich auch die arabische Literatur verallgemeinern. Sie ermöglicht aber einen vertiefenden Einblick in die mannigfaltigen arabischen Lebenswelten, wie die hier vorgestellten Bücher beweisen. Diese zeigen nicht zuletzt, dass arabische Literatur nicht dramatischer Ereignisse bedarf, um be- und geachtet zu werden.
Frühling dank Twitter
Mit Tahar Ben Jelloun wagt einer der bedeutendsten Schriftsteller des Maghreb bereits eine grössere Stellungnahme zu den Unruhen in der arabischen Welt. Im Essayband «Arabischer Frühling» geht der gebürtige Marokkaner zunächst den Gründen für diesen überraschenden Ausbruch nach. Es sei eine neuartige Revolte, bei der es um «das Wiedererlangen der arabischen Würde» gehe, wie der Untertitel des Buchs besagt. Tahar Ben Jelloun betont, dass der Aufstand spontan und improvisiert sei, weil er von einer jungen Generation getragen werde. Diese habe «dank dem Internet das Fenster zur Aussenwelt aufgerissen» und dadurch auch die Würde des Einzelnen entdeckt. Ben Jelloun stuft die Unruhen denn auch als Epochenbruch ein; die Veränderungen seien unaufhaltsam und nicht rückgängig zu machen. Er zerstreut auch westliche Ängste, dass die Unruhen im Islamismus münden könnten. Seiner Meinung nach bedeuten sie im Gegenteil die Niederlage des Islamismus: «Facebook, Twitter, Internet und neue Vorstellungswelten haben den Islamismus hinweggefegt.»
Alltag in Ägypten
Der ägyptische Schriftsteller und Politologe Chalid al-Chamissi schrieb sein Buch «Im Taxi: unterwegs in Kairo» zwar noch in der Ära Mubarak. In einem Interview mit der «Neuen Zürcher Zeitung» strich er aber heraus, dass die kürzliche Revolution letztlich nicht gegen Mubarak gerichtet gewesen sei, sondern «gegen uns selbst, gegen unsere Psychologie der Passivität». Deshalb verraten diese 58 Episoden aus dem ägyptischen Alltag auch viel über die Ursachen des Aufstands. In erster Linie zeichnet Chalid al-Chamissi damit aber ein facettenreiches Bild der ägyptischen Gesellschaft. Die Begegnungen mit Taxifahrern, von denen es in Kairo 250’000 geben soll, erweisen sich als hervorragende Methode, um herauszufinden, was dem Volk unter den Nägeln brennt. Al-Chamissi nähert sich seinen Landsleuten offen und liebevoll, er nimmt sie ernst. Und er weiss die Begegnungen in äusserst lebendige, oft witzige Erzählungen zu verpacken, bei denen man die Szenerie und die Protagonisten plastisch vor Augen hat. Der Autor kann sich den grossen Erfolg des Buchs in Ägypten trotzdem nicht recht erklären, wie er gegenüber der «Neuen Zürcher Zeitung» sagte. Sein Buch hat sich in seiner Heimat 200’000 Mal verkauft, die Romane des Nobelpreisträgers Nagib Machfus gingen hingegen jeweils nur 3000 bis 4000 Mal über den Ladentisch. Das habe nichts mit der Qualität der Bücher zu tun, sondern mit der gesellschaftlichen und politischen Situation, ist der Autor überzeugt; vor 15 Jahren hätte sich wohl keiner um sein Buch geschert.
Najem Wali steht stellvertretend für viele Autoren aus arabischen Ländern, die in den Westen emigriert sind. Der Iraker hat dadurch eine Distanz zur Heimat erhalten, die zum offenen Geist seiner Bücher passt. In seinem letzten, 2009 erschienenen Buch «Reise in das Herz des Feindes» beschrieb er die Erfahrungen, die er bei mehreren Aufenthalten in Israel machte. Er habe dabei vieles entdeckt, was beiden Völkern gemein sei, schrieb er bezüglich der kontroversen Aufnahme seines Buchs. In seinem neuen Roman «Engel des Südens» reist Najem Wali nun in seine alte Heimat zurück, aus der er 1980 nach dem Ausbruch des Iran-Irak-Kriegs geflüchtet ist und die nun wieder von westlichen Mächten besetzt ist. Es ist gleichzeitig eine Reise in die Welt seiner Kindheit, als in der südirakischen Stadt Amaria noch viele Ethnien und Religionen zusammenlebten. Sinnbildlich dafür steht der «Engel des Südens», die von ihm bewunderte Malaika, die Tochter einer Christin und eines Juden. Najem Wali schildert, wie die Minderheiten zunehmend unter Druck kamen und vertrieben wurden, wie Freundschaften zerstört wurden. Er erzählt die Geschichte in 193 episodischen «Entwürfen» zögerlich und verschlungen, was die Lektüre zunächst erschwert. Doch dadurch verdichtet er den Roman auch poetisch vielstimmig. «Warum müssen Autoren den Verlauf der Ereignisse immer verkomplizieren?», fragt im Buch ein britischer Offizier das Alter Ego des Schriftstellers, Harun Wali. Dieser antwortet: «Vielleicht weil sie denken, dass es nichts Langweiligeres und weniger Realistisches gibt, als eine Geschichte in chronologischer Abfolge zu erzählen.»
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