Zum Hauptgang ein Nervenkitzler
admin | Posted 23/06/2011 | Krimi, Orell Füssli | Keine Kommentare »Zerstückelte Opfer, psychopathische Serienmörder und Helden, deren Siege oft einen bitteren Nachgeschmack haben: Thriller-Autorinnen und -Autoren schreiben weniger mit feiner Klinge als mit dem Hackebeil. Trotzdem – oder gerade deswegen – haben sie eine treue und nervenstarke Fangemeinde…
Text: Erik Brühlmann
Im Fachjargon des Buchhandels heissen Thriller “Schlachtplatten” – und das völlig zu Recht. Denn während man an einer «Metzgete» auf der Schlachtplatte Blutwurst, Leberwurst und Beinschinken serviert bekommt, bietet die literarische Schlachtplatte Blut, Lebern und Beine, wahlweise auch andere Körperteile. «Den Begriff hat ein Kollege geprägt», verrät Britta Lutz-Jentzsch. Die gelernte Buchhändlerin arbeitet als Verlagsvertreterin für die Randomhouse-Gruppe und ist eine Thriller-Expertin. «Dieser Kollege vertritt unter anderem Jeff Lindsay, den Autor der Dexter-Romane, und hat dessen Thriller als Schlachtplatten bezeichnet. Das hat sich dann durchgesetzt.»
Blut, Schweiss und Tränen
Einige betrachten Homers «Odyssee» oder das indische Epos Mahabharata als frühe Prototypen des Thrillers. Als eigentliches Literaturgenre existieren die «Nervenkitzler» − vom Englischen «to thrill» – allerdings erst seit Beginn des 20. Jahrhunderts. Sie entwickelten sich aus dem Kriminalroman, dessen Gangart immer härter wurde. Als einer der ersten Vertreter des Genres gilt der Brite Eric Ambler mit seinem Roman «Der dunkle Grenzbezirk» aus dem Jahr 1936. Wie unterscheiden sich denn heute die beiden Genres? «Im klassischen Krimi geht es um die Lösung eines Falls, beim Thriller geht es vor allem um die lauernde Gefahr», sagt Britta Lutz-Jentzsch. Ganz ähnlich sieht es Marco Schneiders, Gesamtprogrammleiter bei Bastei Lübbe: «Beim Thriller steht die Gefährdung der Hauptfigur im Vordergrund. Der Leser erlebt alles hautnah mit.» Die Grenzen zum Krimi würden aber immer fliessender. Sebastian Rothfuss, Pressesprecher bei Blanvalet, streicht heraus, dass «Blut, Schweiss und Tränen» fliessen sollten und dass es nicht primär um die Aufklärung eines Falls gehe, sondern darum, den Weg «von der Gefahr zur Wiederherstellung der früheren Ordnung» zu finden.
Von gruslig bis erotisch
Nicht nur zum Krimi-Genre verschwimmen die Grenzen. Immer öfter bedienen sich Thriller-Autoren bei anderen Genres und kreieren ihre eigenen Erfolgsrezepte mit an sich «artfremden» Zutaten. Sehr beliebt sind zum Beispiel Psychothriller, die laut Sebastian Rothfuss zumeist relativ unblutig sind, dafür aber eine fiese psychologische Komponente haben. Charlotte Link, Jeffery Deaver oder Mary Higgins Clark gehören zu den bekanntesten Vertretern dieser Richtung. Actionthriller wie die Bücher von James Rollins, Clive Cussler oder Matthew Reilly befinden sich genau am anderen Ende der Härteskala. Sie bestechen durch rasante Plots, die in einem klassischen Showdown enden. Freunde des Übernatürlichen greifen zu Horrorthrillern à la Michael McBride und Richard Laymon, und Erotik-Fans kommen unter anderem bei Lisa Jackson auf ihre Kosten. Die Aufzählung könnte schier endlos weitergehen.
Brutale Europäer
Das Grauen hat viele Gesichter, und deren Schöpfer stammen häufig aus den USA. «Geht es um Serienkiller, ist Florida federführend», sagt Britta Lutz-Jentzsch. Das habe einen realen Grund: «In Florida gibt es die meisten Serienkiller der Vereinigten Staaten.» Europäische Autoren würden alles in allem aber blutiger und brutaler schreiben. «Die können richtig Gas geben!» − so wie die Französin Elena Sender in «Begraben»: «Augen, rot geädert mit blauer, gelber oder brauner Iris, Dutzende blutiger Augen starrten sie an. Sie waren ihren Besitzern ausgestochen und hier wie zu einem makaberen Rechenbrett aufgereiht worden.» Auch wenn es immer mehr europäische Schlachtplatten gibt – solche aus der Schweiz sucht man vergeblich. Dennoch empfiehlt Britta Lutz-Jentzsch allen Schlachtplattenfreunden den Roman «Der Vampir von Ropraz» des Waadtländers Jacques Chessex. «Eine packende, verwirrende Erzählung» nannte die NZZ die wahre Geschichte über «Leichenschändung bei den Hinterwäldlern» aus dem Jahr 2008. Auch die Thrillerfreundin ist begeistert: «Dieses kleine Buch ist so verstörend und so eindrücklich – das vergisst man nicht so schnell!»
Frauenliteratur?
«Die Mutter ist total … zerfetzt. Er hat sie so gründlich zerstückelt, dass wir noch Wochen später Teile von ihr im Wagen finden.» Liest man Szenen wie diese aus Anthony E. Zuikers Roman «Level 26», vermutet man den typischen Thriller-Leser als Jugendlichen und jungen Erwachsenen, der nach der letzten Seite an den Computer geht, um noch ein Killer-Spiel zu zocken. Britta Lutz-Jentzsch widerspricht: «Ich las einmal bei einem Abend zum Thema Schlachtplatte in einer Buchhandlung. Im Publikum sassen 40 erwachsene Frauen – und die älteren waren jene, die sich am meisten dafür begeisterten!» Schlachtplatten seien vor allem etwas für Frauen, ist die Verlagsvertreterin überzeugt – und fügt lachend an: «Aber wer weiss: Vielleicht stehen die Männer bloss nicht dazu und verschlingen die Schlachtplatten heimlich!»
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