Sagenhafte Geschichten

Books | Posted 24/09/2011 | Belletristik, Notizen, Orell Füssli | Keine Kommentare »

Island ist Ehrengast an der Frankfurter Buchmesse im Oktober. Nicht weniger als 180 Neuerscheinungen in deutscher Übersetzung unterstreichen, welch grosse Bedeutung die Literatur im kleinen Inselstaat hat. Ob mittelalterliche Sagas oder zeitgemässe Romane: Im Zentrum stehen spannend erzählte Geschichten…

Text: Markus Ganz
Die landschaftlichen Reize von Island sind berühmt. Weniger bekannt sein dürfte hingegen, dass der Inselstaat auch ein Bücherland ist: Jede Einwohnerin, jeder Einwohner kauft pro Jahr durchschnittlich acht Bücher.

Wenn in den letzten Jahren von Island die Rede war, ging es meist um kollabierende Banken oder aschespeiende Vulkane, die den Flugverkehr lahmlegten. Doch die weitab im Nordatlantik liegende Insel verdient auch Beachtung wegen ihrer reichen und lebendigen literarischen Tradition. Obwohl das Land nur 320.000 Einwohner zählt, also weniger als die Stadt Zürich, hat der Isländische Schriftstellerverband 391 Mitglieder. Rund 70 von ihnen können allein von ihrer schriftstellerischen Tätigkeit leben – in der Schweiz sind es nur knapp doppelt so viele. Rekordverdächtig ist auch, dass die Isländer durchschnittlich acht Bücher pro Jahr kaufen. Die herausragende Stellung der Literatur in Island erklärt man sich damit, dass der Inselstaat während Jahrhunderten zu den ärmsten Ländern Europas gehörte. Das kulturelle Angebot war auch wegen der abgelegenen Lage lange sehr beschränkt, so dass fast nur das Lesen blieb.

Sagas des Mittelalters
Der Ausgangspunkt der isländischen Literatur liegt im 13. und 14. Jahrhundert, als die beiden von skandinavischen Göttern und Helden handelnden «Edda»-Werke sowie die Isländersagas niedergeschrieben wurden. Letztere gelten innerhalb der europäischen Literatur als einzigartig, weil sie von Autoren geprägt wurden und die Schilderungen wirklichkeitsnah sind. Schon Dashiell Hammett soll ihre Dialoge und Jorge Luis Borges ihren zynischen Realismus bewundert haben. Im Hinblick auf die Frankfurter Buchmesse wurden 64 Sagas neu auf Deutsch übersetzt, wobei es die erklärte Absicht war, den Lesern die Geschichten leichter verständlich zu machen und sie literarisch zu akzentuieren. Die Texte der fünfbändigen Sammlung «Isländersagas» berichten sehr anschaulich vom schwierigen und konfliktreichen Leben der ersten Siedler vom 9. bis zum 11. Jahrhundert. Aber auch von ihren weiten Seefahrten, die viel zum rauen Ruf der Isländer beitrugen. Noch heute sind die isländische Identität und das literarische Schaffen eng mit diesen Sagas verknüpft.

Belehrungen des Nobelpreisträgers
Der 1902 geborene und 1998 verstorbene Halldór Laxness erneuerte die isländische Erzähltradition und wurde zum ersten grossen Autor der modernen isländischen Literatur. 1955 erhielt er den Nobelpreis für Literatur – dies machte Island zum Staat mit der höchsten Nobelpreisdichte pro Einwohner. Erstmals liegt nun Laxness’ «Das Volksbuch. Über Island und Gott und die Welt» auf Deutsch vor. Mit diesem 1929 erschienenen Essay versuchte der junge Schriftsteller, die Isländer zu belehren. Er wollte seine damals noch stark vom Rest der Welt isolierten Landsleute teilhaben lassen an seinen Erkenntnissen, die er im Ausland gewonnen hatte; diese betrafen die kleinen praktischen Dinge ebenso wie die grossen gesellschaftlichen Fragen, die noch heute von Bedeutung sind.

Abenteuer eines Gelehrten
Wie stark alte Geschichten und Mythen auch junge Schriftsteller von heute inspirieren können, zeigt besonders eindrücklich das Beispiel von Sigurjón B. Sigurdsson alias Sjón. Der Autor, der auch Texte fürs Theater und die Popsängerin Björk schreibt, hat sich für sein neues Buch «Das Gleissen der Nacht» auf autobiografische Schriften von Jón Guðmundsson Lærði gestützt, eines von Paracelsus beeinflussten isländischen Forschers (1574 bis 1658). Er habe diese Texte mit «jener Verantwortungslosigkeit und Sorglosigkeit behandelt, die das Spiel des Dichters von der Arbeit des Wissenschafters unterscheiden». So ist ihm ein hinreissender Schelmenroman mit Hang zur Groteske geglückt, der manchmal an «Der abenteuerliche Simplicissimus» erinnert und sich doch durch einen ganz eigenen Grundton auszeichnet. Sjón lässt die gewitzte Hauptfigur Jónas in quirliger Sprache erzählen, wie er schon als Kind mit höchst unkonventionellen Forschungsmethoden nach Erklärungen für die kleinen und grossen Rätsel des Lebens sucht. Jónas wird zum Gelehrten, der mit seinem Eigensinn überall aneckt und in allerlei Abenteuer verwickelt wird – bis er im Bauch eines Wals seine Ruhe findet.

Wir werden Island
Ein eigenwilliger Kerl ist auch die Hauptfigur in Huldar Breiðfjörðs Roman «Liebe Isländer». Der junge Mann, vermutlich der Autor selbst, hat das gemütliche Leben in Reykjavík satt. Mitten im Winter beschliesst er, mit dem Auto Island zu umrunden, um seine Heimat, seine Landsleute und sich selbst kennenzulernen. Denn er will endlich ein richtiger Isländer werden, und das geht nur im Januar und Februar: «Das sind eindeutig die isländischsten Monate. (…) Unsere Stimmung schwankt in dieser Zeit genauso wie die der Wettergötter. Wir werden Island.» Mit einem kapriziösen Jeep namens Lappi zieht er los und erlebt nicht nur mit diesem einige Abenteuer. Bald bereut er seinen Übermut und hinterfragt seine Mission: Sollte er etwa wie einst Halldór Laxness herumziehen und dann den Leuten in der Stadt raten, die Zähne zu putzen? In Begegnungen mit allerlei merkwürdigen Menschen baut er bald seine Vorurteile gegenüber dem Leben in der Provinz ab. Und lernt dabei auch anspruchsvolle Tugenden der Isländer wie gemeinsames Schweigen. Mit «Liebe Isländer» hat Huldar Breiðfjörðs ein amüsantes literarisches Roadmovie geschrieben, das zugleich ein Buch der Selbstfindung wie auch ein anrührendes Porträt Islands und seiner Bewohner ist.

Wahn einer Nation
Über ein Drittel der Isländer wohnt in Reykjavík. Und selbst viele Bewohner der geschäftigen Hauptstadt fühlen sich dort abgeschnitten vom Puls der weiten Welt. Kommissar Sigurður Óli, die Hauptfigur im Krimi «Abgründe» von Arnaldur Indriðason, fühlt sich eigentlich nur in seinen eigenen vier Wänden wohl. Reisen in Island sind ihm ein Gräuel – und Ferien im Ausland macht er nur, um an die Sonne zu kommen und nicht etwa der Sehenswürdigkeiten wegen. So schaut er sich zu Hause im Fernsehen nur Actionfilme aus Hollywood an und schaltet sofort aus, wenn nicht englisch gesprochen wird; Isländisch findet er infantil. Und so charakterisiert Sigurður Óli auch seine «Klienten». Er zeigt kein Verständnis für die Gründe, die sie auf Abwege geführt haben. Bis er merkt, dass hinter dem Tod einer sexuell freizügigen Frau mehr als ein plumper Erpressungsversuch mit Bildern steckt. Unversehens ergeben sich Verbindungen zum Tod eines Bankers. Und Sigurður Ólis Augenmerk wechselt von unbedarften Kleinganoven zu durchtriebenen Finanzspezialisten, welche die Isländer noch vor wenigen Jahren bewundernd «Expansionswikinger» nannten. Arnaldur Indriðason thematisiert mit diesem Krimi nicht nur die «Abgründe» mancher Finanzgeschäfte, sondern auch den «absurden Grössenwahn einer winzigen Nation», wie es einmal in diesem feinsinnigen Buch heisst. Kein Wunder, ist Arnaldur Indriðason auch im deutschsprachigen Raum ein Bestsellerautor geworden.

Die Kälte der Moderne
Auch in «ein Herz so kalt» von Árni Thórarinsson ist von der «Magie moderner Finanzgeschäfte» die Rede. Aber diese steht als Metapher dafür, dass auch hinter scheinbar unerklärlichen Phänomenen oft nur profane menschliche Absichten stehen. In diesem unterhaltsam geschriebenen Krimi geht es um einen einsamen Lokaljournalisten in einer Kleinstadt, der einer Spukgeschichte nachgeht, weil gerade Sauregurkenzeit ist. Als Einar zum zweiten Mal dem Telefonanruf eines weiblichen Mediums folgt, findet er in einem leerstehenden Haus zwar keinen Geist, aber die Leiche einer jungen Frau. Die sich aber nicht selbst umgebracht hat, wie die aufgeschnittenen Pulsadern andeuten sollen, sondern die erwürgt wurde – und dies bestimmt nicht von einem Geist. Gleichzeitig findet ein Stadtfest statt, an dem die alkoholisierten Besucher und Einars minderjährige Tochter zunehmend die Hemmungen verlieren. Und da taucht auch noch eine amerikanische Filmcrew mitsamt zweier Stars auf, die viele Dollars in die Kleinstadt pumpen wollen, um im besagten Haus einen Erotikthriller drehen zu können. Kurz: Einar hat es nicht einfach, den Überblick zu behalten und den Fall zu lösen.

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Titel:
Die Isländersagas in 4 Bänden mit einem Begleitband

ISBN-13:
9783100076298

Verlag:
Fischer (S.), Frankfurt

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