Der Friedhof in Prag

Hannah Gi | Posted 10/10/2011 | Belletristik | Keine Kommentare »

„Ich erwarte zwei Arten von Lesern… Da ist der erste, der nicht ahnt, dass alle diese Dinge wirklich geschehen sind (…) ein Leser, der sogar Dan Brown ernst genommen hat (…) Der zweite weiß oder errät, dass ich wirklich geschehene Dinge erzähle, er merkt, wie über seine Stirn langsam Schweißperlen rinnen, er schaut beunruhigt über seine Schulter, schaltet alle Lampen in der Wohnung an (…). Und er denkt vielleicht genau das, was ich mir wünsche: ´Sie sind unter uns…`“

Dreißig Jahre nach seinem Weltbestseller „Der Name der Rose“ veröffentlicht Eco erneut einen historischen Roman, diesmal allerdings mit einem durch und durch bösen Antihelden, von dem Eco selber annimmt, der Leser werde es unmöglich finden, ihn zu lieben. Damit könnte er richtig liegen: Simon Simonini, genialer Fälscher, Spion und Geheimdienstler in ganz Europa, ist ein verbitterter, im klinischen Sinne schizophrener alter Mann, vor dessen rassistischem Hass kaum etwas oder jemand gefeit ist: Simonini hasst Italiener, Deutsche, Franzosen, Priester, Freimaurer, ganz besonders aber Juden und die Frauen – nicht eben ein Sympathieträger. Eine Kostprobe seiner unmutigen Äußerungen über die Deutschen mag ein Licht auf die schön herablassende und aggressive Diktion Simoninis werfen: „Die Deutschen habe ich kennen gelernt, und ich habe sogar für sie gearbeitet: die denkbar niedrigste Stufe der Menschheit. Ein Deutscher produziert im Durchschnitt doppelt so viel Fäkalien wie ein Franzose. Hyperaktivität der Verdauungsfunktion zu Lasten des Hirns, die ihre physiologische Unterlegenheit zeigt. (…) Der Deutsche lebt in einem Zustand permanenter Verdauungsbeschwerden wegen seines exzessiven Bierkonsums und jener Schweinswürste, mit denen er sich vollstopft…“

Dieser Simonini also erwacht eines morgens Ende des neunzehnten Jahrhunderts in Paris, und hat sein Gedächtnis verloren. Mit Hilfe des Erzählers Eco – und eines jungen Wiener Arztes namens Freud – rekonstruiert der Protagonist nun sein Leben und seine Taten; und wie sich zeigt sind seine Machenschaften derart angelegt, dass der Eindruck entsteht, es gebe keine üble Intrige und Verschwörung des 19. Jahrhunderts, in der er nicht seine Finger im Spiel gehabt hätte. Im Zentrum des Romans steht dabei die Dreyfus-Affäre, für die Simonini, wie sollte es anders sein, belastende Dokumente herstellte. Auch an den berüchtigten gefälschten „Protokollen der Weisen von Zion“, die eine jüdische Weltverschwörung dokumentieren sollen, und antisemitischer Propaganda bis in die Zeit des Nationalsozialismus hinein Zündstoff lieferten, ist Simonini beteiligt.

Eco schreibt durchaus in „pädagogischer Absicht“, er möchte zeigen, wie ein Mensch zum Fälscher wird und welche geschichtliche Wirkungsmacht Fälschungen und Lügen letztlich entfalten können. Dabei lässt er drei Erzähler zu Wort kommen: Simonini, dessen Alter Ego Abbé Dalla Piccola und Eco selber. Romanteile in Briefformen und historische Illustrationen ergänzen die geschickte Mischung von Fakten und Fiktion.

Welche Art von Leserschaft sind wir nun? Ich für meinen Teil habe den Roman als einen Historienschinken – das Buch umfasst über 500 Seiten, wer will, kann auch noch ein schön aufgemachtes „Einlesebuch“ dazu erwerben – verschlungen, ohne mich um Ecos feinsinnige Unterscheidung der Dan Brown Fans auf der einen und der von ihm bevorzugten Historienkenner auf der anderen Seite zu kümmern und fand die Lektüre von Anfang an überaus fesselnd, teilweise sogar amüsant und auch lehrreich – was will man mehr? Dass Eco bei Erscheinen seines Romans in Italien auch harsche Verrisse hinnehmen musste, sei hier nicht verschwiegen, allerdings sind die Anwürfe der Historikerin Lucetta Scaraffia, Ecos Roman sei langweilig, wirr und schwierig zu lesen für mich ebenso wenig nachvollziehbar wie der Anna Foas, einer Dozentin für Geschichte an der römischen Universität La Sapienza, die meint, Eco gelinge es nicht, wie beabsichtigt eine Fälschung zu widerlegen.

Wer Freude an einem prallen, subtilen Verwirrspiel mit unzähligen historischen Bezügen hat, sollte auf jeden Fall zugreifen.

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Titel:
Der Friedhof in Prag: Roman

ISBN-13:
9783446237360

Autor:
Umberto Eco

Verlag:
Carl Hanser Verlag GmbH & Co. KG

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