Die Geister der Vergangenheit
admin | Posted 11/03/2012 | Autoren, Belletristik, Orell Füssli | Keine Kommentare »Zeruya Shalev legt mit ihren Romanen den Finger in die Wunden menschlicher Unzulänglichkeiten. In ihrem neuen Buch «Für den Rest des Lebens» geht sie der Frage nach, welche Entscheidungen man selbst trifft – und welche einem von den Umständen aufgezwungen werden…
Text: Erik Brühlmann/Books
Zeruya Shalev gilt als die wichtigste Schriftstellerin Israels. Ihre Romane wurden in 22 Sprachen übersetzt, ihr Erstlingswerk «Liebesleben» wurde gar verfilmt. Dieser Erfolg ist insofern erstaunlich, als dass ihre Werke inhaltlich wie sprachlich alles andere als leichte Kost sind. Entsprechend lange nimmt sich die 52-Jährige denn auch zwischen ihren Veröffentlichungen Zeit: «Für den Rest des Lebens» ist ihr erster Roman seit sieben Jahren. Und auch diesmal geht es um komplexe zwischenmenschliche Beziehungsgeflechte, um Krisen, um träumerische Erwartungen und die harte Realität.
Die Last des Vergangenen
«Ich war immer fasziniert von Tragödien», sagte die sprachgewaltige Autorin einmal in einem Interview. Und diese Faszination schlägt sich in ihrem neuen Roman «Für den Rest des Lebens» nieder, verleiht ihm eine Schwere, die einen beim Lesen zuweilen beinahe erdrückt. Dass der Titel an eine lebenslängliche Verwahrung erinnert, ist kein Zufall. In der Tat sind die Figuren – die 80-jährige Mutter Chemda Horowitz, Tochter Dina und Sohn Avner – Gefangene ihrer Vergangenheit. Während Chemda mit dem Schicksal hadert, dass ihr alles im Leben entweder zu früh oder zu spät widerfahren ist, trauert Avner vielen verpassten Chancen nach. Dina wiederum kämpft mit der Verbitterung, die ihr die Erinnerungen an die Vergangenheit beschert. «Was hätte sein können, wenn …?», lautet die Kardinalsfrage, an der sich die drei Figuren verbeissen. Die Gegenwart und die Zukunft bleiben dabei auf der Strecke – ganz so, wie es bei Zeruya Shalev auch zuweilen der Fall ist, wie sie der «Zeit» verriet: «Ich lebe oft nicht in der Gegenwart. Ich quäle mich mit Fragen der Vergangenheit, grüble über Fehler, die ich gemacht habe, und Dinge, die ich im Nachhinein ändern würde.»
Zeruya Shalev wurde 1959 im Kibbuz Kinneret am See Genezareth geboren. Nach ihrer Geburt zog die Familie – der Vater ein renommierter Literaturkritiker und Bibelgelehrter, die Mutter eine Malerin und Kunstdozentin – in ein kleines Dorf in der Nähe von Tel Aviv. Nach ihrer Militärzeit, in der sie als Sozialarbeiterin eingesetzt wurde, studierte Zeruya Shalev Bibelwissenschaften in Jerusalem. Dort lebt sie noch heute mit ihrem dritten Mann, dem Schriftsteller Eyal Megged. Die Familienverhältnisse der beiden Autoren sind, wie Zeruya Shalev sagt, verwirrend: Sie hat eine erwachsene Tochter aus zweiter Ehe, er zwei Kinder aus seiner ersten Ehe; gemeinsam haben sie einen 16-jährigen Sohn, und vor einigen Jahren adoptierten sie auch noch einen Jungen aus einem russischen Waisenhaus. 2004 wurde Zeruya Shalev bei einem Selbstmordattentat in Jerusalem schwer verletzt. Sie bezeichnet dieses Ereignis als einen Wendepunkt in ihrem Leben.