Stan Nadolny: Weitlings Sommerfrische
admin | Posted 29/05/2012 | Belletristik | Keine Kommentare »Welch einladender Titel: Sommerfrische – das klingt nach Uuurlaub! In Stan Nadolnys neuem Roman – wer erinnert sich nicht an ‘Die Entdeckung der Langsamkeit’ oder ‘Selim oder die Gabe der Rede’? – bedeutet Sommerfrische natürlich etwas ganz anderes…
Wilhelm Weitling, Berliner Richter a.D., hat sich wie jeden Sommer ein Ferienhaus am Chiemsee gemietet; das Haus, das früher seinen Großeltern und Eltern gehört hat und in dem er aufgewachsen ist. Er ist glücklich verheiratet mit Astrid, die er am folgenden Tag erwartet. Vorher unternimmt er aber noch eine Segeltour über den See. Das aufkommende Gewitter erkennt er vor lauter Nachdenken über sich und sein Leben zu spät und erleidet – wie schon einmal als 16-Jähriger – Schiffbruch. Weitling spürt noch den Einschlag eines Blitzes und findet sich dann 50 Jahre zurück versetzt.
Die nächsten Monate – oder doch nur Sekunden? – verbringt er als Geist, gekettet an den Körper seines 16-jährigen Alter Ego, das davon nichts merkt, in seiner eigenen Vergangenheit. Sommerfrische nennt Nadolny diese inspirative Zeitreise. Sie gibt Weitling die Gelegenheit, sein Leben noch einmal zu überdenken, das er teils neugierig, teils kritisch in all seinen Facetten betrachtet, mit Schule, erster Liebe, Rebellion und allem, was zu einem 16-jährigen eben dazugehört. Die Reise in die Vergangenheit wird zu einer philosophischen Zeitreise.
Aber halt – trügen ihn seine Erinnerungen oder verläuft sein Leben und das seiner Familie wirklich anders als damals? Anfangs sind es nur kleine Unterschiede, aber bald wird deutlich, dass es tatsächlich ein anderes Leben ist, das Weitling in seiner Sommerfrische erlebt. Seine Eltern gehen ganz andere Wege als die, die Weitling kennt. Und sein eigener Weg? Weitling kehrt in die Gegenwart zurück, er wird nach seinem Schiffbruch gerettet, aber er ist nicht mehr der Mensch, der er vor dem Kentern war. Zwar erfüllt sich sein sehnlichster Wunsch – er ist immer noch mit Astrid verheiratet – aber alles andere hat sich verändert…
Nadolny ist wieder ein wunderbarer Roman gelungen, der den Leser dazu anregen kann, über Vorbestimmung und sein eigenes Leben nachzudenken – wenn er will. Spannend ist es allemal!
Text: C.G.
Stan Nadolny wurde 1942 in Zehdenick (Brandenburg) geboren. Sein zweiter Roman ‘Die Entdeckung der Langsamkeit’ gilt als Klassiker der modernen Literatur. Nadolny wurde mit vielen Preisen ausgezeichnet, seine Werke wurden in zahlreiche Sprachen übersetzt. Er lebt in Berlin und am Chiemsee.