Von Hogwarts in die Provinz
Books | Posted 27/09/2012 | Belletristik, Orell Füssli | Keine Kommentare »Nach fast viereinhalb tausend Seiten hat Joanne K. Rowling der magischen Welt von Harry Potter den Rücken gekehrt. Mit ihrem ersten Roman (nur) für Erwachsene wendet sie sich der absurden Welt der Kleinstadtpolitik zu…
Eine Welt ohne Harry Potter? Sie ist kaum mehr vorstellbar. Bloss 15 Jahre sind vergangen seit den ersten Abenteuern des schlauen Lehrlings im Zauberinternat Hogwarts. Unvergessliche Figuren wie der Bösewicht Lord Voldemort und der weise Schuldirektor Albus Dumbledore sind als Archetypen in unsere Alltagskultur eingegangen. Vom Reitbesenspiel Quidditch existiert unterdessen eine Version für reale Menschen samt jährlich durchgeführtem «World Cup», «Muggle Quidditch» genannt.
So wie die fiktiven Figuren in die Realität hinüber greifen, hat Harry Potter das Leben seiner Schöpferin J.K. Rowling in den Bereich des Märchenhaften gerückt. Aus der zu Depressionen neigenden alleinerziehenden Mutter, die sich zum Schreiben ihres Erstlings in die stillste Ecke eines Cafés verkroch, ist eine peinlichst auf die Wahrung ihrer Privatsphäre bedachte Autorin geworden. Sie lebt mit Ehemann und drei Kindern in einem gewaltigen Landhaus in Schottland, ihr Vermögen wird auf 600 Millionen Pfund geschätzt.
Ginge es nach ihren Fans, könnte sie ruhig jedes zweite Jahr einen neuen Potter-Roman veröffentlichen.
In der Tat hat Rowling eine Weiterführung der Saga nicht ausgeschlossen. Vorläufig aber will sie ihren verschmitzten Helden in Ruhe sein Leben als erwachsener Mann geniessen lassen. Es gehört nämlich zu den Besonderheiten der Harry-Potter-Serie, dass die Helden nicht wie in den meisten anderen Kinderbuchserien gleich alt bleiben. Vielmehr sind Harry und seine Kumpanen mit jedem Band älter geworden. So, wie der Teenager Harry unaufhaltsam die Freuden und Leiden des Erwachsenwerdens kennenlernt, sehnte sich auch die Muse von J.K. Rowling nach einer neuen Herausforderung. Das Resultat – «Ein plötzlicher Todesfall» – erzählt die Geschichte einer idyllischen Kleinstadt, die durch den Tod eines Gemeinderatsmitgliedes jäh aus seinem Dornröschenschlummer gerissen wird.
Die Streitereien, Neidereien und Gaunereien von Politikern haben schon immer und überall ein gefundenes Fressen abgegeben für Autoren, die mit dem Verlauf der Dinge unzufrieden waren. Die Politik in Grossbritannien ist besonders gut dazu angetan, reichhaltiges Material für Satiren abzugeben. So, wie im Parlament die Mehrheit der Abgeordneten und daher auch die Macht im Land alle paar Jahre zwischen Labour und Tories hin und her geht, wird die Politik auch auf Gemeindeebene weitgehend durch diese Polarität bestimmt; je nach Gegend kann einer der Pole manchmal durch die Liberale Partei oder die schottischen Nationalisten ersetzt werden. Diskussionen spitzen sich deswegen rasch zu einem undifferenzierten Schwarz-Weiss-Palaver zu, bis es nur noch darum geht, dem Gegner eins auszuwischen. Auf diese Weise werden Beschlüsse gefasst, die niemandem etwas nützen – aber den Verantwortlichen helfen, das politische Gesicht zu wahren.
Rowling erzählt die Geschichte einer Kleinstadt, die am politischen Hickhack und an der damit verbundenen Verlogenheit zerbricht. Der Sprung aus der magischen Welt von Hogwarts in die nur allzu reale englische Provinz ist kühn – aber nicht überraschend. Rowling hat immer wieder politisch Stellung für die Labour-Partei und deren Sozialprogramm bezogen und ist sogar als wichtige Geldgeberin hervorgetreten. Darüber hinaus unterstützt sie aktiv eine Reihe wohltätiger Organisationen im Bereich des Gesundheitswesens.
Übrigens herrscht in Grossbritannien seit Monaten ein emsiges Rätselraten, welches Städtchen Rowling für ihr fiktives «Pagford» Modell gestanden haben könnte. Das schottische Kelso, Richmond in Nordyorkshire und Tewkesbury in Gloucestershire sind die bisherigen Favoriten. Alle hoffen sie sehnlichst darauf, dass der garstige Kleinkrieg des Romanes dereinst in den eigenen Strassen ausgefochten werde. Denn eine Verfilmung der Geschichte ist praktisch unausweichlich – und die für die Dreharbeiten auserwählte Stadt wird auf einen lukrativen Strom von Schlachtenbummlern zählen dürfen.
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